Zerfleischende Liebe
Die Opéra national du Rhin eröffnet ihre Spielzeit mit Heinrich von Kleists erschreckend moderner Penthesilea, vertont von Pascal Dusapin.
In Heinrich von Kleists Penthesilea fehlt dem Mythos – anders als in Homers Ilias – jeglicher männlicher Heroismus: Bei Kleist geht es um die Herrschaft der Amazonen, jener Kriegerinnen, die ihren Fortbestand dadurch sichern, dass sie mit den im Kampf besiegten Männern Nachkommen zeugen. Das tragische Los dieser Verbindungen ist besiegelt: Die Jungen werden getötet, die Mädchen behalten und aufgezogen. Doch in diesem Stück verliebt sich die Amazonen-Königin Penthesilea in Achilles. Dieser erwidert ihre Gefühle, und als sie sich im Kampf gegenüberstehen, ist Achilles aus Liebe bereit, sich von Penthesilea gefangen zu nehmen. Sie aber, gepackt von rasender Leidenschaft, bohrt ihre Zähne in ihn und zerfleischt ihn zusammen mit ihren Hunden. In dem Moment, in dem ihr ihre Tat bewusst wird, sagt sie sich von dem ehernen Amazonengesetz los.
Das Werk verklärt das destruktive Spannungsverhältnis von Liebe und Tod, das übrigens zahlreiche psychoanalytische Interpretationen zulässt und folglich ein entschieden modernes Echo hat. Der Komponist Pascal Dusapin wollte „die Liebe durch den Filter des Gesetzes betrachten“ und musikalisch wiedergeben. Seine Oper wurde am Brüsseler Opernhaus La Monnaie am 31. März 2015 uraufgeführt (und von der Kritikervereinigung Syndicat professionnel de Théâtre, Musique et Danse mit dem Preis für das beste musikalische Werk ausgezeichnet). Seine lebendige und rohe Inszenierung – Pascal Dusapin kürzte den ursprünglichen Text auf einen Prolog, elf Szenen und einen Epilog – erntete in den Medien großes Lob. Das Libretto ist von unglaublicher Vitalität und betont die romantische Seite Kleists, der erst lange nach seinem Tod Anerkennung fand. Der Gegensatz ist also total.
(A.O.C.)
Photo © Théâtre de la Monnaie de Bruxelles