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Ohne alte Dame

Um Dürrenmatts Kapitalismuskritik herauszuarbeiten, lässt Regisseur Florian Fiedler die alte Dame außen vor und konzentriert sich auf die habgierige Gesellschaft.

Man muss schon seine Fantasie anstrengen, um sich heute ein Schweizer Dorf vorzustellen, das finanziell am Ende ist und in dem die Menschen darben. Die Güllener Bürger in Florian Fiedlers Inszenierung sehen auch nicht so aus als würden Sie am Hungertuch nagen – ganz im Gegenteil: In ausgepolsterten Fatsuits betreten die Schauspieler die Bühne. Individualität gibt es keine. Wieso auch? Es ist nicht der einzelne, der darüber entscheidet, ob man Geld über Moral stellt, es ist die Gesellschaft, das System. Selbst das Individuum der alten Dame ist nicht zu sehen, sondern spricht nur aus dem Off: Eine Milliarde bietet sie der Kleinstadt, allerdings nur, wenn dafür ihr ehemaliger Geliebter stirbt. Was ist in unserer kapitalistischen Gesellschaft die Moral noch wert? Ist jeder käuflich? Und wer entscheidet, welche Werte noch etwas zählen und welche nicht? Florian Fiedler – der seine Laufbahn einst als Regieassistent am Theater Basel begann – treibt die Kapitalismuskritik in Friedrich Dürrenmatts Klassiker auf die Spitze und verhilft ihm damit in ein neues Gewand. Sein außergewöhnliches Konzept, in dem nicht die alte Dame sondern die gierige Gesellschaft im Vordergrund steht, polarisiert. Doch wer bereit ist, sich von dem Klassiker zu lösen, bekommt einen Theaterabend präsentiert voller hintergründiger Komik, eingängigem Elektrosound (der Band Rainer von Vielen) und einem Volk, das gleichzeitig Opfer und Täter eines kapitalistischen Systems ist. (T.B.)

Foto © Judith Schlosser


Etiketten:Dürrenmatt

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