Im Rohzustand
Der aus Montreal stammende Choreograf Dave St-Pierre erforscht in Foudres, dem dritten Teil seiner Trilogie über die Gefühlszustände der Gesellschaft, die Höhen und Tiefen der menschlichen Seele.
„Für mich wird es nie genug sein: nie vulgär, chaotisch, gewaltsam, bissig, animalisch, menschlich oder verstörend genug“, sagt der Choreograf gerne über seine Arbeit. Seine Stücke, die wegen ihrer intelligenten künstlerischen Auseinandersetzung ebenso wie wegen ihrer Skandalträchtigkeit mit Spannung erwartet werden, rufen überall, wo sie aufgeführt werden, Reaktionen hervor.
Die erste Arbeit des Enfant terrible der kanadischen Tanzszene, seine Trilogie Sociologies et autres utopies contemporaines, erscheint wie ein Manifest für eine Kunst, die weder Halbherzigkeit noch Tabus kennt – so wie die Arbeit von Pina Bausch, auf die er sich beruft. Nach La pornographie des âmes (2004) und Un peu de tendresse bordel de merde (2006) bildet Foudres (2012) den Abschluss einer Reflexion über Leben, Tod und Liebe. Letztendlich ist es der Mensch, der vollständig ausgeleuchtet wird, vor allem in seiner ganzen unmittelbaren Körperlichkeit.
Auf der Bühne versuchen nackte Liebesgötter mit baumelnden Geschlechtsteilen zwei arme Seelen, die von der Wucht der plötzlich aufwallenden Liebe wie erschlagen sind, dazu zu bringen sich gegenseitig in die Arme zu werfen. Leidenschaft ist hier Synonym für gegensätzliche Kräfte, die Raum für eine kollektive Therapie lassen: Die Emotionen kochen über in einem fröhlichen Durcheinander. Es wird gebrüllt, sich verausgabt und gegenseitig aufgestachelt. Ohne sich allzu ernst zu nehmen, legt Dave St-Pierre das irrationalste unserer Gefühle bloß: die Liebe. (C.T.)
Photo © Wolfgang Kirchner
Weitere Informationen
- Selbstporträt von St-Pierre auf France Inter (FR)
- Rezension des Stücks auf Resmusica.com (FR)
- Polemik über die Nicht-Aufführung von Foudres in Montreal (FR)
- Beschreibung des Stücks auf mousonturm.de