Als Lehrer, Trainer und Coach arbeitet Jean-François Boisnon täglich mit dem Ballett Zürich. In einem Interview im März 2020 mit Evi Hock (Balletloversblog) gewährte er einen Einblick in seinen Arbeitsalltag.
E. H.: Das Ballett Zürich hat Ballette der renommiertesten Choreograf*innen im Repertoire. Wie ist die Zusammenarbeit mit Gastchoreografen?
J.-F. B.: Ich arbeite mit vielen Choreografen des (neo-) klassischen Balletts seit Jahren zusammen und kenne deren Stile und Bewegungssprachen. Bei einer Wiederaufnahme kommen meist zuerst die Assistent*innen des Choreografen oder der Choreografin nach Zürich, um das Stück mit dem Ballett Zürich einzustudieren und zu proben. Den letzten Schliff gibt der Choreograf*in selbst kurz vor der Premiere.
Bei Uraufführungen entsteht das neue Stück in unseren Ballettsälen. Dann arbeiten die Choreografen und deren Assistenten wochenlang hier mit dem Ballett Zürich. Unsere Aufgabe ist es, alle Choreografien zu lernen und zu einem späteren Zeitpunkt an unsere Compagnie weiterzugeben. Auch hier werden wir drei Ballettmeister aufgeteilt und gefordert.
Im Januar 2020 tanzte das Ballett Zürich einen Ballettabend mit drei verschiedenen Choreografien des Starchoreografen William Forsythe. Diese Stücke, alle Schweizer Erstaufführungen, sind im Stil total unterschiedlich und schwer zu lernen. Das erste Stück „Second Detail“ ist sehr klassisch und zeichnet sich durch schwierige Drehungen aus. Auch die Arme werden anders gehalten, die Fussarbeit ist extrem schnell.
Für die Proben hatten wir nur 3 Wochen Zeit. Zusätzlich mussten wir Ersatz für einige verletzte Tänzer*innen finden. Die Männer und die Frauen probten ihre Parts erst getrennt. In den letzten 10 Tagen vor der Premiere wurde das Stück gemeinsam zu Ende gelernt.
Forsythe lobte das Ballett Zürich bei der Premierenfeier: „Das Ballett Zürich ist nicht nur eine Ballettcompagnie. Es ist ein Ensemble, das – ohne Hierarchien- hervorragend zusammenarbeitet und Spitzenleistungen erzielt.“ Was für ein Kompliment!
E. H.: Wie lernt das Ballett Zürich neue Choreografien?
J.-F. B.: Wir beginnen damit, alle Schritte und Bewegungen zu lernen und mitzuzählen. Das wirkt fast militärisch. Als zweiter Schritt kommt das Feintuning, das immer weiter und weiter angepasst wird. Der Fokus liegt dann auf dem Stil des Choreografen und der Rollengestaltung. Mit der Zeit werden die Tänzer*innen lockerer und spontaner. Sie denken weniger über die Choreografie nach, fühlen sich sicherer und haben ihre Bewegungen automatisiert.
Professionelle Tänzer*innen lernen sehr schnell. Die Jüngeren benötigen mehr Proben. Oftmals fragen unerfahrene Tänzer*innen ihre Kollegen*innen, die die Rolle bereits getanzt haben, um Rat. Sie helfen sich gerne gegenseitig.
E. H.: Wie gelingt es, das Beste aus den Tänzerinnen und Tänzern herauszuholen?
J.-F. B.: Ich kenne die Tänzer*innen schon seit langem. Im Laufe meiner Karriere als Ballettmeister habe ich gelernt, wie ich Tänzer*innen richtig motivieren und fordern bzw. fördern kann. Jeder Tänzer hat eine Seele und Charakter. Das muss man akzeptieren und darauf eingehen. Früher ging es strenger zu. Heute wird viel auf Teamwork gesetzt. Mir geht es darum, dass eine gute Gruppendynamik erreicht wird, nicht um die totale Perfektion.
Wir haben das Glück, sehr begabte und engagierte Tänzer und Tänzerinnen zu haben, die sehr hart arbeiten, um ihren Job gut zu machen. Sie sind respektvoll, denn sie wissen, dass sich der Einsatz lohnt. Lob zu geben, ist mir sehr wichtig, um den Tänzer*innen zu zeigen, dass sie auf dem richtigen Weg sind.
E. H.: Was bedeutet eigentlich Junior Ballett? Und wie arbeitet ihr mit den Junioren?
J.-F. B.: Die Funktion des Junior Balletts ist es, die Lücke zwischen der formalen Ausbildung junger Tänzer*innen und den Beginn ihrer beruflichen Karriere zu schliessen. Viel Aufmerksamkeit und Behutsamkeit ist erforderlich, weil diese Zeit eine der schwersten Übergänge in der professionellen Laufbahn ist.
Wir investieren sehr viel Zeit und Arbeit in das Junior Ballett. Leider können wir später nicht alle Junioren in die Compagnie übernehmen, da es nicht genügend Arbeitsverträge gibt. Manchmal ist es bedauerlich, junge Talente gehen zu lassen. Es freut mich immer sehr, wenn Tänzer*innen bei anderen Compagnien Erfolg haben. Viele sind auch sehr dankbar.
Oftmals entdecken wir junge Talente von Anfang an. Bei manchen Tänzer*innen zeigt sich erst auf der Bühne, was für eine grosse Ausstrahlung und Bühnenpräsenz sie besitzen.
E. H.: Wie sieht es mit Verletzungen beim Ballett Zürich aus?
J.-F. B.: Als kleine Compagnie mit nur 36 Tänzer*innen sind Verletzungen ein grosses Problem. Letztes Jahr waren 6 Frauen verletzt. Da musste ich schnell entscheiden, um die Vorstellung noch retten zu können. Beispielsweise musste Emergence mit weniger Tänzerinnen auskommen, da wir keinen Ersatz hatten. Auch bei Ratmansky’s Schwanensee hatte ich bei einer Vorstellung nur 4 anstatt 6 schwarze Schwäne.
Dieses Jahr haben wir 3 schwangere und 2 verletzte Tänzerinnen. Auch wenn wir mehrere Besetzungen in den grossen Stücken haben, wird es im Corps de Ballett schnell eng. Oftmals kann ich jemanden von der Tanzakademie Zürich oder eine Schülerin der Ballettschule für das Opernhaus Zürich einsetzen.
Manchmal hilft pures Glück wie beispielsweise bei Giselle, als sich im 1. Akt ein Mädchen den Fuss verletzte. Eine Ballettschülerin, die Ersatz war, sass im Zuschauerraum und hatte sogar ihre Spitzenschuhen dabei. Sie sprang kurzfristig ein. Die Pause wurde 15 Minuten verlängert, sodass ich sie trotz der knappen Zeit noch etwas vorbereiten konnte. Die Vorstellung war gerettet!
Foto: Ballett Zürich