Als Lehrer, Trainer und Coach arbeitet Jean-François Boisnon täglich mit dem Ballett Zürich. In einem Interview im März 2020 mit Evi Hock (Balletloversblog) gewährte er einen Einblick in seinen Arbeitsalltag.
Evi Hock: Du bist seit 2000 Ballettmeister beim Ballett Zürich, zudem Assistent von Alexei Ratmansky für Schwanensee und Gastlehrer im Teatro alla Scala in Mailand. Welche Aufgaben hat ein Ballettmeister?
Jean-François Boisnon: Ballettmeister trainieren und arbeiten mit den Tänzerinnen und Tänzern den ganzen Tag. Wir sind hier zu Dritt: Ich teile mir die Arbeit mit Eva Dewaele und Daniel Otevrel. Als erstes am Morgen absolvieren ein Ballettmeister oder eine Ballettmeisterin das tägliche Training zum Aufwärmen und um den Körper in der klassischen Tanztechnik zu perfektionieren. Danach studieren wir gemeinsam die kommenden Choreografien ein.
Für Wiederaufnahmen des Repertoires bereite ich mich durch Videos vor. Bei Unklarheiten schaue ich in meine eigenen Notizen. Erst danach probe ich mit der ganzen Compagnie. Den neuen Tänzer*innen zeigen wir alle Schritte und üben mit ihnen die Choreografie. Mit den anderen werden die Stücke repetiert, weiter geprobt und verfeinert. Ballett muss immer präzise sein. Alles muss so stilgerecht wie möglich erhalten bleiben. Wir haben grossen Respekt vor dem Choreografen!
Bei neuen Stücken arbeitet ein Gastchoreograf, eine Gastchoreografin oder unser Ballettdirektor Christian Spuck mit dem ganzen Ensemble. Mindestens ein Ballettmeister von uns ist immer bei Einstudierungen dabei, macht Notizen und lernt alle Schritte und Bewegungen mit. Nach der Premiere sind wir Ballettmeister des Balletts Zürich für die Originaltreue der Choreografie zuständig. Wir helfen mit, dass die Tänzer*innen das Stück weiter verbessern und weiterentwickeln.
Bei jeder Vorstellungen sitzen wir, Christian Spuck und wir Ballettmeister im Zuschauerraum. Eventuelle Änderungen oder Fehler werden aufgeschrieben und am nächsten Tag angepasst. Ich bin gerne im oberen Rang im Opernhaus. Da sehe ich, welcher Tänzer nicht in der Reihe steht und wessen Kopf- und Armhaltungen nicht korrekt sind. Die Tänzer*Innen wissen, dass ich auf Präzision, Ausdruckskraft und Qualitätachte. Nach der Aufstellung freue ich mich mit den Tänzer*innen über die gelungene Aufführung und bedanke mich für den erbrachten Einsatz.
E. H.: Warum ist die Arbeit mit dem Corps de Ballet so wichtig?
J.-F. B.: Die Gruppe sollte sich zu einem Körper zusammenfügen. Ohne Corps gibt es kein Stück. Die Gruppe bildet den Körper des Stücks, die Solisten den Kopf. Die Mitglieder des Corps de Ballet atmen und tanzen zusammen. Sie spüren sich als Einheit. Dadurch entstehen manchmal magische Momente, die mich immer ganz begeistern.
Anderseits merkt man sofort, wenn Formationen in der Gruppe nicht stimmen. Wir achten sehr auf Synchronität und das Zusammenspiel der Gruppe sowie der Solisten.
E.H.: Wie machst Du Deine Notizen?
J.-F. B.: Ich habe keine Notationen wie Laban gelernt. Trotz meines guten Gedächtnisses erinnere ich mich manchmal nicht mehr so genau an Einzelheiten vergangener Choreografien. Meine visuelle Erinnerung kommt sofort wieder, wenn ich meine Notizen anschaue. Meine Musikalität hilft mir zusätzlich.
Seit 20 Jahren schreibe ich alle klassischen und neoklassischen Ballette auf, für die ich zuständig bin. Hauptsächlich für das Corps de Ballet, denn wenn viele Tänzer*innen auf der Bühne sind, ist es oft nicht ganz klar, wer welche Bewegungen macht wie beispielsweise eine Arabesque, ein Jeté, ein Pas de Bourree. Ich weiss genau, wer welche Position auf der Bühne hat und wohin gehen wird. Im Video kann man das oft nicht genau sehen. Manche Videos enthalten Fehler oder sind nicht die neueste Version. Meine Aufzeichnungen sind präzise genug, um mir zu helfen.
Ändert der Choreograf etwas, notiere ich die neueste Fassung. So kann ich immer nachschauen und bin für die Probe vorbereitet. Das ist immer sehr viel Homework und braucht viel Zeit.
Als Crystal Pite Emergence hier einstudierte, war ich bei den Proben mit den Frauen immer dabei und habe alles aufgeschrieben. Zusätzlich nahm ich die Proben auf Video auf. Es ist sehr viel Material, aber so sehen wir genau den gewünschten Stil. Die Tänzer*innen erinnern sich schneller, wenn sie das Video anschauen.
E. H.: Wie sieht der tägliche Arbeitsplan des Balletts Zürich aus?
J.-F. B.: Wir haben eine 6-Tage Woche, auch Samstag wird trainiert. Das tägliche Training beginnt um 10 Uhr und geht bis 11.15 Uhr. Es wird von einem unserer Ballettmeister geleitet. Wir wechseln uns ab. Die ganze Compagnie ist verpflichtet, daran teilzunehmen. Ein- bis zweimal wöchentlich gibt es ein Training nur für das Junior Ballett zusätzlich, denn sie brauchen mehr Ausbildung. Zur Einstudierung des klassischen Repertoires ist manchmal ein getrenntes Damen- und Herrentraining notwendig. Von 11.30 Uhr bis zur Mittagspause um 13.30 stehen Proben an. Ab 14.30 Uhr wird weiter geprobt, bis um 18.00 Uhr, Samstag nur bis um 13.30 Uhr.
Bei Vorstellungen am Abend wird trainiert und geprobt von 10 Uhr bis 13.30 Uhr, der Nachmittag ist frei und. Meist beginnen die Tänzer*innen 2 bis 3 Stunden vorher, sich vorzubereiten, schminken, frisieren und anziehen. Sie müssen spätestens eine Stunde vorher im Opernhaus sein. Ein Ballettmeister bietet ein 30-minütiges Aufwärmtraining eine Stunde vor der Vorstellung an. Unsere Tänzer*innen können sich auch allein aufwärmen, denn sie wissen, welches Training sie vor einer Vorstellung benötigen.
Lebenslauf
Jean-François Boisnon, geboren in Frankreich, absolvierte sein Studium am Conservatoire National de Tours, am Conservatoire National Supérieur de Paris und am Centre International de Danse Rosella Hightower. Er war Stipendiat der Fondation de France und des Prix de Lausanne, gewann den Ersten Preis am Conservatoire National Supérieur de Paris und wurde 1996 mit dem Mary Wigman Award ausgezeichnet.
Nach einem ersten Engagement in Basel war er Solist an der Deutschen Oper am Rhein und beim Royal Ballet of Flanders sowie Erster Solist an der Semperoper Dresden und beim Leipziger Ballett. Er tanzte vor allem im klassischen Repertoire und arbeitete mit Choreografen wie Heinz Spoerli, Uwe Scholz, Glen Tetley, Hans van Manen, Maurice Béjart und John Neumeier zusammen. 2013 gehörte er der Jury des Prix de Lausanne an. An der Deutschen Oper Berlin und in Lissabon studierte er Choreografien von Heinz Spoerli ein.
Seit der Spielzeit 2000/01 ist er Ballettmeister beim Ballett Zürich. Für Schwanensee war er 2016 Assistent von Alexei Ratmansky an der Mailänder Scala.
Foto: Ballettprobe © Ballett Zürich