In seinem neuen Stück AM ENDE LICHT zeichnet der britische Autor Simon Stephens feinsinnig das Portrait einer nordenglischen Familie, die sich fremd geworden ist, und erzählt über Abschiede und Neuanfänge und über die tiefen Verunsicherungen, die daraus entstehen. szenik hat sich vor der Premiere mit Peter Carp, Intendant und Regisseur, und der Dramaturgin Laura Ellersdorfer über dieses spannende Theaterstück unterhalten.
Was passiert in dem Moment, in dem man stirbt? Bleibt die Zeit stehen? Läuft sie schneller? Ist man den Menschen nah, die man liebt?
Im selben Moment, in dem Christine eine Hirnblutung erleidet und ihr Körper auf dem Boden eines Supermarktes aufschlägt, sterben sechstausenddreihundert- sechzehn andere Menschen auf der Welt ebenfalls. Fünfzehntausend Menschen werden geboren. In genau diesem Moment erwacht ihre Tochter Jesse in ihrem Bett neben einem Mann, an dessen Namen sie sich nicht mehr erinnern kann. Nervös betritt ihr Ehemann Bernard ein Hotelzimmer mit Himmelbett, um sich in ein erotisches Abenteuer zu stürzen, während ihre alleinerziehende Tochter Ashe bei einem Streit um den Unterhalt ihren Exfreund, einen Junkie, endgültig vor die Tür setzt. Zur gleichen Zeit kämpft der jüngste Sohn Steven, gegen seine Verlust- und Versagensängste an und trifft seinen älteren Lover.
Zeitgleich und in fünf verschieden Städten ringen die Familienmitglieder mit ihren jeweils eigenen Problemen. Und bei all diesen Begegnungen ist Christine anwesend. Im Moment ihres Todes sind die Leben ihrer Angehörigen unsichtbar miteinander verbunden…
Was hat Sie an diesem Stück berührt?
Peter Carp: Es gibt viele Gründe. Zum einen ist die Geschichte toll; es sind spannende, aus dem Alltag gegriffene Figuren, die aber eine große seelische Fülle haben. Das ist eine Stärke von Simon Stephens: Er schildert Menschen, denen wir täglich und überall begegnen. Ohne sich in großen Erklärungen zu verlieren, schafft er es, ihr Innenleben zu beleuchten. Für SchauspielerInnen sind seine Figuren sehr ergiebig, da sie immer wieder neue Aspekte ihrer Charaktere erkennen und ausloten können. Das ist eine schöne Aufgabe.
Laura Ellersdorfer: Simon Stephens schildert Menschen. Es ist ungewöhnlich ein Stück zu lesen, dass Zynismus durch Empathie ersetzt. Es gibt keine Figur, die unsympathisch ist, obwohl sie so manche Fehler machen (Drogen, Ehebruch…). Jede Figur kämpft aber für sich und daraus entsteht eine große Herzlichkeit, die man in der heutigen Zeit nicht sehr oft findet.
P.C.: Trotzdem werden harte Themen verhandelt. Es ist keine „Schmuse-Abend“; es geht um den Tod einer ehemals alkoholabhängigen Frau, ihre auf Nordengland verstreute Familie und die Ereignisse, die ihre Kinder sowie ihr Ehemann im Moment ihres Sterbens durchleben. Die Frage, ob und wie diese Familie wieder zusammenfinden kann, steht in diesem Stück im Zentrum.
Gibt es ein Thema oder einen Erzählstrang, auf den Sie einen Fokus legen möchten? Zum Beispiel: Die Suchtprobleme der Mutter und deren Auswirkungen auf ihre Kinder; die Suche nach einem Platz im Leben…
P.C. : Simon Stephens übt keine Kritik an der Familie; noch bewertet er seine Figuren moralisch. Ich finde, dass das Stück etwas utopisches mit sich bringt: Trotz ihrer Zerrissenheit findet diese Familie durch die Beerdigung der Mutter wieder zueinander. Wir wissen nicht, wie lange das anhalten wird, aber erst einmal fangen sie wieder an, sich für einander zu interessieren. Diese „Familenbande“ ist sehr wichtig, sei es im negativen oder im positiven Sinne. Die Sucht der Mutter hat sich auf ihre Kinder ausgewirkt; sie haben Probleme ihren Platz im Leben zu finden. Durch ihren Tod nähern sie sich aber dem Vater, einer etwas strauchelnden Figur, wieder an. Es scheint, als sei der Tod und die Beerdigung der Mutter eine Art Neubeginn für diese Familie.
L.E. : Das Gefühl einer „Zukunft“ entsteht auch durch die Aufnahme der Partner der Kinder in die Familie. Die Konflikte der Geschwister verwandeln sich in einen Raum der Annäherung. Am Ende ist Licht, wie es der Titel so schön sagt.
Simon Stephens verfasst kurze Sätze, knappgehaltene Szenen. Man hat beinahe den Eindruck, Kurzgeschichten zu lesen…
P.C.: Wir treffen hier auf eine genau komponierte Alltagssprache. Das macht dieses Stück für SchauspielerInnen so reizvoll. Sie können ausloten, aus welcher Stimmung diese einfachen Sätze kommen. Heute Nachmittag haben wir eine Szene geprobt, in der sich zwei Figuren in einem Hotelzimmer befinden und streiten. Einer der Schauspieler hat ein Gefühl der Enttäuschung in seinen Text einfließen lassen, was wiederum eine neue Situation ergeben hat. In dieser scheinbar einfachen Alltagssprache ist eine unglaubliche Emotionalität möglich.
Es ist ein sehr interessant komponiertes Stück. Wir haben es hier mit knapp aneinandergereihten Szenen zu tun, deren Umsetzung auf der Bühne spannend ist. Das Stück scheint musikalisch notiert zu sein. Mich erinnert es an Kammermusik.
L.E.: Simon Stephens macht das sehr geschickt, denn er erstellt eine Gleichzeitigkeit in den Handlungssträngen. So schließen sich die Szenen ineinander.
Die ersten veröffentlichten Bilder lassen ein minimalistisches Bühnenbild erahnen. Warum haben Sie sich dafür entschieden?
P.C.: Wir haben einen abstrakten Raum geschaffen, der durch Licht und Klangcollagen viele unterschiedliche Spielorte zulässt. Das Stück ist wie eine Art Drehbuch verfasst. Es beginnt mit dem Monolog der Mutter im Supermarkt; dann befinden wir uns im Schlafzimmer ihrer Tochter Ashe. Daraufhin geht es von einem Pub in ein Café, zu einem Hotel und einer Kathedrale… Erst am Ende offenbart sich uns der einzig konkrete Raum: das Wohnzimmer der Familie, in dem die Trauerfeier vorbereitet wird. All diese verschiedenen Orte spiegeln die Zersplitterung der Familie wieder, die wir, zusammen mit unserem Bühnenbildner Kaspar Zwimpfer, in diesem abstrakten Raum darstellen.
L.E.: Der Raum lässt viele Assoziationen offen. Durch das Sounddesign verorten wir die einzelnen Handlungsstränge. Allerdings stellt sich schon die Frage, ob wir uns nach dem Tod der Mutter in ihrem Kopf, in so einer Art Zwischenwelt, befinden. Das Stück lässt da einfach einen großen Assoziationsbogen zu, was es so spannend macht.
Auf der Suche nach Inspiration hat der Autor eine Reise durch Nordengland unternommen. Lassen sich ihrer Meinung nach die dargestellten Figuren mit dieser Region verbinden oder könnten wir Ihnen auch in anderen Ländern begegnen?
L.E.: Simon Stephens ist auf dieser Reise seinen familiären Wurzeln gefolgt. Seine Großeltern haben sich zum Beispiel in Blackpool kennengelernt. Seine Mutter wurde von seiner Großmutter allein aufgezogen, als sich ihr Vater aufgrund des Krieges in Alveston befand. In Doncaster hat sein alkoholabhängiger Vater gelebt. Stephens hat all diese Orte besucht und sich dort mit Menschen getroffen, die ein ähnliches Leben führ(t)en wie seine eigene Familie. So unterhielt er sich mit einer Gruppe alkoholkranker Personen oder alleinerziehenden Müttern. All diese Begegnungen hat er in einem Notizbuch notiert und so Inspiration für dieses Stück gesammelt. Deswegen hat man auch den Eindruck, dass diese Figuren so aus dem Leben gegriffen sind.
Hinzu kommt, dass Nordengland wirtschaftlich ärmer ist als der Süden des Landes. Früher als das ökonomische Herz des Landes gepriesen, hat die Region seit der Deindustrialisierung herbe Verluste erlebt. Simon Stephens kommt ursprünglich aus Stockport; er hat dort seine Jugend verbracht und schreibt viel für das Royal Exchange Theatre in Manchester. Er ist also eng mit dem Norden verknüpft, wenn er auch aktuell in London lebt. Ich glaube, es interessiert ihn sehr, in welcher Gesellschaft Menschen aufwachsen und wie sie davon geprägt werden.
Zum einen lässt sich das Stück also gut in Nordengland verorten, zum anderen könnten wir diesen Figuren überall begegnen.
P.C.: Das Industriegebiet Nordenglands lässt sich auf gewisse Weise mit dem Ruhrgebiet vergleichen. Während meiner Zeit als Intendant in Oberhausen habe ich viele Menschen getroffen, die den Figuren des Stückes ähneln. Viele müssen sich „durchbeißen“ und haben selten bis keine Luxusprobleme, wie man das aus anderen Städten kennen mag (ohne dies bewerten zu wollen). Es sind Menschen, deren Wege nicht geebnet sind.
In einem Artikel sagte Simon Stephens, Theater sei eine Maschine der Empathie. Würden Sie diesem zustimmen?
P.C.: Ja, absolut. Theater lebt aber auch von Konflikten, Missverständnissen, widersprüchlichen Interessen und von Träumen, die sich nicht immer erfüllen. Die Empathie findet sich im Theaterabend wieder, wenn sich die ZuschauerInnen in die Figuren hineinversetzen können. Gelingt dies nicht, dann ist es schwierig dabei Freude zu empfinden.
L.E.: Simon Stephens zu Folge kann Theater einen Raum für Auseinandersetzung schaffen. Sei es von Konflikten oder von Empathie… oder dem Leben.
Mit welchen Gefühlen sollen die ZuschauerInnen Ihre Inszenierung verlassen?
P.C.: Mit einem warmen oder melancholischen Gefühl. Diese Art von Traurigkeit oder Melancholie gehört zum Leben dazu und davor sollte man keine Angst haben.
L.E.: Das Stück handelt vom Tod. Fast jeder von uns hat schon einmal eine Beerdigung erlebt. Ich wünsche mir, dass man berührt und inspiriert wird, und seine eigenen Erinnerungen an diese Geschichte anknüpfen kann. Gerade in der letzten Szene, in der es um die Organisation der Beerdigung geht, wird bei aller Pragmatik die Trauer jeder einzelnen Figur spürbar; das berührt mich sehr und weckt in mir persönliche Erinnerungen.
P.C.: Es wäre schön, wenn ein solcher Theaterabend uns dazu brächte, mehr auf die uns nahestehenden Menschen zu achten.
Interview: j. lippmann
Fotos: Britt Schilling