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Mohammad Al Attar zu „Damaskus 2045“: „Die Lage Syriens ist wie ein Spiegel der düsteren Realität, wie wir sie weltweit erleben.“

In ihrem im Teatr Powszechny in Warschau uraufgeführten Stück DAMASKUS 2045 befragen die syrischen Theatermacher Mohammad Al Attar und Omar Abusaada die Mechanismen des Vergessens, das Schreiben von Kriegs-Geschichte und die Narrative der Sieger und Besiegten. Szenik hat sich mit dem Autoren kurz vor der Premiere (19.11.2021) im Theater Freiburg über die Entwicklung des Stücks und seine Aktualität unterhalten.

Damaskus 2045“ wirft unzählige Fragen auf, die aktueller kaum sein könnten. Wie wird Geschichte erzählt? Wer erzählt sie und wie kann eine „offizielle“ Version soviel Unausgesprochenes beinhalten? Wir leben in einer Zeit, in der Zeitzeugen entscheidender historischer Augenblicke oder großer Kriege versterben. In einem solchen Kontext stellt sich natürlich die Frage der Weitergabe der Fakten, des Erlebten. Was hat Sie dazu bewegt, sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen? Wie sind Sie beim Schreiben dieses Stückes vorgegangen? 

Mohammad Al Attar : Seit ein paar Jahren beschäftige ich mich nun mit der Frage, wie wir Geschichte schreiben und erzählen, vor allem in Kriegszeiten. Wer hat das Recht auf die Aneignung des Narrativen in Zeiten eines Aufruhrs, einer Krise oder eines Krieges (oder wenn diese vorbei sind)? Natürlich stellen sich mir diese dringenden Fragen aufgrund der Lage in Syrien. Es gab bereits Anzeichen für das systematische „Vergessen“ oder „Auslöschen“ unseres Aufruhrs oder unserer Revolution, so wie wir sie nennen, bei manchen Parteien. So entstand in mir die Dringlichkeit, mich diesem Thema zu widmen und darüber zu schreiben. 

Gleichzeitig unterhielt ich einen Kontakt zum Warschauer Teatr Powszechny, das an einer Kooperation mit Omar und mir interessiert war. Es ist ein wirklich interessantes und progressives Theaterhaus. Was die polnische Politik anbelangt war ich zu dem Zeitpunkt noch etwas ignorant. Ich lese natürlich viel darüber und halte mich im Allgemeinen auf dem Laufenden. So war mir der Aufstieg der nationalistischen Rechten in diesem Land durchaus bekannt. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit informierte ich mich aber immer mehr darüber. Gleichzeitig wollte ich nicht über die polnische Lage schreiben, da es mir an Legitimität, mich zu diesem Thema zu äußern, fehlt. So manche Personen reisen und leben ein paar Wochen oder Monate in einem Land, schreiben ein Buch und nennen sich daraufhin „Experten“, ohne jedoch die Geschichte, die Sprache oder den Kontext genau zu kennen. Diesen Fehler wollte ich nicht machen. 

Doch wie einen Zusammenhang herstellen zwischen dem, was Omar und ich erlebten, und einem polnischen, wenn nicht sogar internationalem Publikum? Je mehr ich Museen besuchte und mit polnischen SchülerInnen, PolitikerInnen, KünstlerInnen und HistorikerInnen sprach, umso deutlicher wurde mir die Universalität des Themas: Wer schreibt Geschichte und wie eignen sich Amts-oder Befehlsgewalten ihrer an? Und wie wird aus ihrer Version die „offizielle“ Geschichtsschreibung? Diese Frage in einem aktuellen Kontext zu stellen, sei es in Bezug auf Syrien oder Polen, fand ich eine sehr interessante Verbindung (auch wenn die Dringlichkeit zwischen den beiden Ländern vielleicht differenziert betrachtet werden kann). 

Während des Schreibens entstand ebenso die Frage nach der Rolle von Monumenten und Museen. Sie befinden sich oft in den Händen der Amts-und Befehlsgewalten, und geben deren „offizielle“ oder einzige Geschichte wieder.  

Damaskus 2045 I Theater Freiburg

Sie scheinen aus einer Dringlichkeit heraus zu schreiben. Es erscheint mir schwierig über eine Thematik oder eine Situation zu schreiben, deren Ausgang unbekannt ist. Wie gehen Sie damit um? 

In einer solchen Dringlichkeit zu schreiben ist schwer und gleichzeitig auch riskant. Niemand weiß, wie aktuelle Situationen und Geschichten ausgehen. In solchen Fällen kann es passieren, dass die eigenen Reaktionen oder Gedankenschlüsse zu prompt sind. Die Notwendigkeit liegt aber nicht in der Dringlichkeit des Schreibens, sondern im Verhandeln der Fragen, die sich mir stellen. Omar und ich müssen in dieser Dringlichkeit arbeiten; es muss etwas Relevantes oder Wichtiges sein, das wir bis ins Mark spüren. Auch wenn wir wissen, dass die Lage in Syrien ungewiss ist, gehen wir dieses Risiko ein. Es ist unser Weg, unsere Zeit zu besprechen. Es ist auch unsere einzige Weise. Wir sind keine Journalisten oder Anwälte – Theater ist unser Werkzeug um über wichtige ethische, politische, philosophische Themen zu besprechen, und dies über ein syrisches Publikum hinaus. Wir glauben stark daran, dass die syrische Lage wie ein Spiegel der düsteren Realität, wie wir sie weltweit erleben, ist. Sei es in Fragen der Politik, sozialer Gerechtigkeit oder der Klimakrise.

Damaskus 2045 I Theater Freiburg

In Ihrem letzten Stück „Während ich wartete“ beschrieben Sie einen Mann, der im Koma liegt und währenddessen die Veränderungen in seinem Umfeld betrachtet. In „Damaskus 2045“ behandeln Sie, u. a., Träume, Albträume. Was interessiert Sie an der Reaktion unseres Körpers oder unseres Unterbewusstseins auf die Realität? 

Das ist eine gute Frage. Ich glaube, es gibt Dinge, die wir bewusst oder mittels unseres Körpers ausdrücken können. Doch es gibt vieles, das wir, vor allem in Krisenzeiten und bei erlebten Traumata, nur unterbewusst ausdrücken können. Träume, Albträume, Unausgesprochenes – sie sagen sehr viel über unsere Lebenskonditionen aus. Menschen, die wie die syrische Bevölkerung seit Jahren, so viel Angst und Terror erlebt haben… Die Revolution, der Bürgerkrieg; diese vielen Tragödien hinterlassen ihre Spuren und leben in unserem Unterbewusstsein weiter. All dies Unausgesprochene und Erlebte sagt viel darüber aus, wer wir sind, wie wir leben und wie wir überleben können. 

Damaskus 2045 I Theater Freiburg

Das Stück verhandelt ebenfalls die Frage der digitalen Technik und deren Bedeutung, die wir ihr geben, sei es in der Archivierung wichtiger Dokumente oder in der „Beziehung“ zu virtuellen Assistenten. Diese Kontrolle oder beinahe Macht der digitalen Komponente – haben Sie davor Angst? 

Ich habe Angst davor, weil solche oder ähnliche Geschehnisse tatsächlich bereits passieren. Technologie ist nicht schlecht; es ist die Art und Weise, wie wir sie benutzen, die wir beachten müssen. Ich misstraue dem Digitalen, der künstlicher Intelligenz und unserer Abhängigkeit davon. 

Im Theaterstück spielt dieser Aspekt aber nur eine sekundäre Rolle. Im Stück gibt es zwei virtuelle Assistentinnen. Eine unterhält eine sehr menschliche Freundschaft zu einer Person, was mir ebenso sehr Angst macht. Menschen verlassen immer mehr den sozialen Raum und suchen im virtuellen Bereich nach Beziehungen, Verbindungen. Die andere Assistentin ist Teil der Amts-und Befehlsgewalt; sie ist Teil des Systems. An ihrer Funktion lässt sich der Kontroll-oder Überwachungsaspekt gut erkennen. Es ist erschreckend, wenn man darüber nachdenkt, wie autoritäre Regime heutzutage sophistische Technologien als Gewaltmittel einsetzen, um ihre Bevölkerung einzuschüchtern oder zu kontrollieren. Zum Beispiel Chinas Bewertungssystem, das darüber entscheidet, ob man ein „guter“ oder „schlechter“ Bürger ist. Das macht mir sehr Angst. Gleichzeitig kann ich nur hoffen, dass wir uns allen dessen bewusst und gemeinsam dagegen vorgehen werden. 

Damaskus 2045 I Theater Freiburg

In „Damaskus 2045“ manipuliert die Regierung menschliche Erinnerungen und möchte somit eigene kriminelle Taten auszulöschen. Es wird gesagt, dass andere Länder an diesem „Experiment“ sehr interessiert seien. In Bezug auf Syrien: Ist dies tatsächlich eine Angst von Ihnen? 

Das ist es tatsächlich, denn es passiert jetzt, in diesem Moment. Ich weiß nicht, wie die Situation im Jahr 2045 sein wird, aber ich weiß gewiss, dass solche Machenschaften und Handlungen bereits geschehen sind. Natürlich ist Syriens tatsächliche Geschichte anders. Es begann mit einem friedlichen Aufstand gegen eine der brutalsten Assad-Dynastien. Doch vor allem junge Generationen, die immer noch in Syrien leben, unterstehen der narrativen Version und der moralischen Kontrolle eines in vielen Teilen des Landes noch vorherrschenden Regimes sowie seiner russischen oder iranischen Hintermänner. Diese jungen Menschen können nur über die Schule richtig informiert werden – doch dies ist aktuell kaum möglich.

Ich gebe Ihnen ein konkretes Beispiel: Meine Schwester hat kleine Kinder und sie erklärte mir, dass sie ihnen nicht die Wahrheit über die aktuelle Lage Syriens sagen kann. Sie waren noch sehr klein, als der Krieg begann und sie haben daher keine Erinnerung daran. Dies ist eine klassische Geschichte, die jedes Land betrifft, das von einem autoritären Regime geführt wird. Man kann seine Kinder nicht informieren, weil man Angst um und für sie hat. Dies ist eine erschreckende Tatsache, die, noch einmal, wirklich geschieht. Die Rolle des russischen Regimes bei der Durchsetzung eines bestimmten Narrativs über den Kampf in Syrien, die Art von Narrativ, die natürlich den Diskurs des syrischen Regimes unterstützt, ist ein Beispiel dafür. Leider ist der Rest der Welt nicht besser. Es scheint, als wäre es ihnen egal. Es scheint, als seien nur zwei Themen für die Länder, die im internationalen Kontext als Hauptakteure im Syrienkonflikt definiert werden können, wichtig: Stabilität und Migration. Basierend darauf ist es erschreckend, wie internationale Akteure mit einem Regime verhandeln, das für unzählige Massaker und Verletzungen der Menschenrechte verantwortlich ist. Experten haben zahlreiche Aufzeichnungen und Zahlen über die Gewalttaten und Opfer des Regimes. Diese Furcht, die ich spüre, basiert auf Fakten, nicht auf meiner Imagination.

Damaskus 2045 I Theater Freiburg

Würden Sie sich und Omar Abussada als „Geschichtsschreiber“ bezeichnen? 

Nein. Diese Last kann ich nicht auf meinen Schultern tragen. Wir sind Theaterschaffende; wir lieben es Theater zu machen, weil wir dort experimentieren können. Natürlich ist Theater politisch und dies ist ein Aspekt, den wir auch in unseren Produktionen bearbeiten. Bereits während meines Studiums in Damaskus, als mein Wissen über Theater noch sehr gering war, verstand ich seine politische Kraft und die Möglichkeit in einem Saal eine Debatte zu entfachen. Als Theaterschaffende glauben wir aber gleichzeitig an die Freude Kunst zu schaffen. Ich liebe das Theater, das Proben und das Erzählen von Geschichten. Dieser Entstehungsprozess, wenn sich unterschiedliche Menschen zusammenfinden und zusammen schaffen, ist die Essenz unserer Arbeit. 

Zum Autor

Mohammad Al Attar ist ein syrischer Dramatiker und Dramaturg. Er gilt als wichtiger Chronist des vom Krieg zerrissenen Syriens. 
Er studierte Englische Literatur an der Universität Damaskus und Theaterwissenschaften am Higher Institute for Dramatic Arts in Damaskus. An der Goldsmiths University of London schloss er sein Masterstudium in Applied Drama ab. Seine Stücke wurden in vielen Sprachen an verschiedenen Theatern und Veranstaltungsorten auf der ganzen Welt aufgeführt, darunter: Festival d’Avignon, Festival d’Automne in Paris, an der Volksbühne Berlin, im Lincoln Center New York, am Royal Court Theater in London und am HKW Berlin. 

Al Attar hat für zahlreiche Zeitschriften und Zeitungen geschrieben, mit einem besonderen Fokus auf die syrische Revolution seit 2011. Derzeit ist er Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.

Interview: j. lippmann
Am 15. November 2021 I Visiokonferenz
Theater Freiburg
Aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.
Fotos Damaskus 2045: Laura Nickel
Foto Mohammad Al Attar: Giorgia Fanelli

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