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Zarte Seelen und dynamische Neoklassik: Das Tanzfestival „The World of John Neumeier“ bringt Literatur und Musik Amerikas ins Festspielhaus

The World of John Neumeier

Joffrey Ballett - Under the Tree's Voices © Cheryl Mann

Gerade hat ihn Hamburg mit langen Feierlichkeiten und großem Schmerz nach 51 rekordverdächtigen Jahren ziehen lassen und das renommierte Fachmagazin „tanz“ ihn mit dem Lifetime Achievement Award geehrt, da beglückt John Neumeier in seiner jüngsten Rolle als Kurator und Impresario wieder Baden-Baden: Von 26. September bis 13. Oktober findet zum dritten Mal das Festival „The World of John Neumeier“ statt, wieder mit einem großen Rahmenprogramm in der ganzen Stadt.

Der diesjährige Themenschwerpunkt liegt dem Meister besonders am Herzen, es ist die Literatur seiner Heimat USA. Neumeier bringt seine Adaptionen der berühmtesten Dramen von Tennessee Williams mit, „Endstation Sehnsucht“ und „Die Glasmenagerie“. Es ist das erste Gastspiel des Hamburg Ballett unter der neuen Leitung von Neumeiers jungem Nachfolger Demis Volpi, der zu den geliebten Hamburger Tänzerstars einige neue Persönlichkeiten engagiert hat. Als Gastkompanie hat Neumeier das Joffrey Ballet aus Chicago eingeladen, in dieser Stadt setzte er zum ersten Mal einen Fuß auf die Bühne. Die traditionsreiche Kompanie war lange nicht in Europa zu sehen (und noch nie in Baden-Baden!) und trägt in ihrem dreiteiligen Abend mit drei deutschen Erstaufführungen ebenfalls zum Themenschwerpunkt bei.

Eröffnet wird das Festival mit der Ballett-Werkstatt am 26. September, wo Neumeier am lebenden Objekt, gemeinsam mit den Hamburger Tänzern erläutert, wie man die Dialoge und großen Emotionen von Tennessee Williams in Choreografie umsetzt. Beim Tanzatelier vor der Kurmuschel (28.9.12h) heißt es wieder Mittanzen statt Zuschauen, und beim Salongespräch im LA8 (29.9. 14.30h) trifft der Festivalleiter mit Ashley Wheater, dem Direktor des Joffrey Ballet, auf einen eloquenten und humorvollen Gesprächspartner, der viel über die ballettösen Unterschiede zwischen der neuen und der alten Welt erzählen kann. Neue Arbeiten zeigen sowohl die Absolventen der Ballettschule des Hamburg Ballett in „Absprung – Choreographers for tomorrow“ (Kongresshaus, 3.10., 17h) wie auch das Bundesjugendballett: Die jungen Tänzer stellen im Theater am Goetheplatz (3.10.19h, 4.10. 20h) ein neues Stück von Edvin Revazov, dem langjährigen Ersten Solisten des Hamburg Ballett, vor und erinnern mit „Sybil Dances“ an John Neumeiers erstes Engagement (1960–1962) in der Compagnie von Sybil Shearer.

John Neumeier © Kiran West

„Endstation Sehnsucht“ wurde nicht nur als Bühnenstück, sondern auch als Film mit Marlon Brando weltberühmt; Tennessee Williams erzählt hier die Geschichte der zerbrechlichen Südstaatenschönheit Blanche DuBois, die nach großen Verlusten bei ihrer Schwester in New Orleans Trost sucht – und dort auf deren brutalen Mann Stanley Kowalski trifft. Mit verwehten Rückblenden und dem beklemmenden Porträt einer zerbrechenden Seele, mit leisen Tönen von Sergej Prokofjew und der überwältigenden Ersten Symphonie von Alfred Schnittke zählt das Tanzdrama zu Neumeiers fesselndsten Balletten. Im Festspielhaus Baden-Baden tanzt das Hamburg Ballett „Endstation Sehnsucht“ vom 4. bis 6. Oktober.

Auch in der „Glasmenagerie“, die das Hamburg Ballett am zweiten Oktoberwochenende (11. bis 13.10.) zeigt, zerbrechen Träume an der Realität, aber hier viel stiller: die fragile Laura sortiert Glasfigürchen und flüchtet ins Kino, ihr unzufriedener Bruder Tom wäre so gern ein Künstler und verbirgt seine Homosexualität, die übermächtige Mutter hängt der Vergangenheit nach. Das intensive Kammerspiel, durch das auch Tennessee Williams höchstpersönlich geistert, entwickelt sich zu einer rein amerikanischen Partitur von Aaron Copland, Philip Glass und Ned Rorem. Im Festspielhaus live gespielt von der Philharmonie Baden-Baden.

Eine Adaption von John Steinbecks Klassiker „Von Mäusen und Menschen“ bringt das Joffrey Ballet mit, die heutige Zürcher Ballettdirektorin Cathy Marston adaptierte die Novelle über kalifornische Landarbeiter vor drei Jahren für die Truppe aus Chicago. Die atmosphärische Musik ist ein Auftragswerk des „James Bond“-Filmkomponisten Thomas Newman. Mit dem dynamisch-schwirrenden „Hummingbird“ des Briten Liam Scarlett und dem melancholisch getönten Herbst-Stück „Golden Hour“ des Franzosen Nicholas Blanc zeigt die Companie zwei neoklassische Ensemblestücke zu großartiger Minimal Music – zunächst zum „Tirol Concerto“ von Philip Glass und dann zur Sinfonie „Under the Trees‘ Voices“ des Italieners Ezio Bosso.

Vom 29. September bis 13. Oktober steht Baden-Baden wieder im Zeichen der Choreografen-Legende John Neumeier. Im 2024 erstmals dreiwöchigen Tanzfestival zeigt der Kurator in seiner „World of John Neumeier“ eigene Arbeiten und lädt spannende Tanzkompagnien ein.

Glasmenagerie © Kiran West

festspielhaus.de

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