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„Wie alles endet“ von Manuela Infante beim Theaterfestival Basel: „Ich sage gerne, dass das, was ich mache, eine Form des verzauberten Philosophierens ist. „

Warum ist es so schwer, sich eine Geschichte ohne Ende überhaupt vorzustellen? Die chilenische Regisseurin Manuela Infante ist Spezialistin dafür, komplexe theoretische Fragen sinnlich auf die Bühne zu bringen. Ihr Theater erzählt Geschichten auf ungewohnte Weise, oft mit Loops und Sprachschichten, immer mit feinem Humor. Szenik hat sich mit der Regisseurin vor der Premiere unterhalten. 

„Wie alles endet“ wird am 3. und 4. September 2022 im Rahmen des Theaterfestival Basel gezeigt. Weitere Vostellungstermine finden Sie auf der Webseite des Theater Basel.

1. Sie präsentieren “Wie alles endet” im Theater Basel. Was war der Auslöser für dieses Stück ? Was hat Sie dazu inspiriert ?  

Es ist nicht zu übersehen, dass alle Formen des Storytellings und des akademischen Denkens vom „Ende“ besessen sind. Dystopische Science-Fiction ist überall präsent. Apokalyptisches Denken ist wieder im Trend. Dies hat natürlich mit der globalen Erderwärmung und allen sozialen sowie geopolitischen Ereignissen zu tun, die mit den katastrophalen Folgen von jahrhundertelanger Ausbeutung und der Erschöpfung natürlicher Ressourcen zusammenhängen. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich diese „Besessenheit vom Ende“, dieses zeitgenössische Untergangsdenken, kritischer überdenken müsste, weil es mir zu ausweichend erschien. 

In gewissem Sinne verschleiert diese Faszination für das Ende das Jetzt in seiner ganzen Komplexität und Unordnung. Es gibt eine Normativität des „Endes“, die von der Unmöglichkeit oder dem Unwillen ausgeht, Ereignisse im Jetzt als nicht abgeschlossen, ungelöst oder sinnlos zu verstehen. Diese Normativität entspricht natürlich einem ganzen Narrativ des linearen Fortschritts, das stark auf religiösem apokalyptischem Denken und seiner säkularen Version in der historischen Teleologie und dem Begriff des Fortschritts beruht.

2. Das Konstrukt « Ende » beherrscht die Menschheit: Religionen, Märchen, die Filmindustrie, Philosophien – Wie erklären Sie sich diese, beinahe bizarre, Faszination für das «  Ende » ? 

Zunächst einmal würde ich sagen, dass es eine westliche Besessenheit ist. Apokalyptisches Denken hat das westliche Verständnis in mehr oder weniger naiven Momenten der Geschichte dominiert, aber es hat nie aufgehört zu existieren. Mit apokalyptischem Denken meine ich die Vorstellung, dass Sinn, Erfüllung, Bedeutung, Entwicklung, Fortschritt, Wirtschaftswachstum oder einfach nur Glück „am Ende“ kommen werden. Die Vorstellung, dass das, was vollendet werden muss (Jüngstes Gericht, Erlösung oder Katastrophe), am Ende der Zeit eintreten muss, ist eine künstliche Inszenierung; eine lineare, aufgeschobene Zeit ist eine rein künstliche Vorstellung, die nicht nur unsere Fiktionen und Erzählungen, sondern auch unsere Vorstellung von Geschichte strukturiert.  

Im Spanischen bedeutet Ende – „fin“ – auch „finalidad“, der Zweck einer Sache. In der westlichen Kultur wird ein narrativer Bogen der Konsonanz geschaffen, in dem Anfang, Mitte und Ende kohärent strukturiert sind und in dem sich der Zweck durch den Endpunkt offenbart. Das Ende gibt der ganzen Geschichte im Nachhinein eine homogene Harmonie. Aber dieses Modell der Linearität, der gespannten Erwartung einer Lösung muss vorkolonialen Kulturen in Amerika völlig absurd erschienen sein, da sie keinen Sinn für eine sukzessive Aneinanderreihung von Ereignissen und ein endgültiges Ziel hatten, sondern in einer zirkulären Zeit funktionierten. Ich glaube, dass ein kritischer Blick darauf in diesen Zeiten des neuen apokalyptischen Denkens dringend erforderlich ist.  Wie kann es sein, dass wir durch die Schaffung dieser künstlichen Erzählung eines bevorstehenden Endes nicht auf die Mitte schauen, in der wir uns befinden, auf das Chaos, das wir haben. Die Apokalypse wird nicht kommen; sie ist schon da. 

Wir befinden uns in der absoluten Mitte, hier leben wir, nicht in einem metaphysischen historischen Erzählbogen. Wir sind an die Mitte gebunden. Diese Mitte ist begrenzt, chaotisch, unverständlich, unerkennbar, komplex und übertrifft uns. Wir sind an die „Mittigkeit“ unseres begrenzten Platzes in der Welt gebunden. Mit einem ebenfalls begrenzten Verständnis. Wie können wir also unsere politischen Zeiten aus der Perspektive dieser Mitte denken? Ohne ein zukünftiges Ende zu projizieren oder aufzuschieben, das der Gegenwart Kohärenz und Bedeutung aufzwingt? Wie würde eine Politik der Mitte, des Jetzt aussehen?

3In Ihrem Stück brechen Sätze ab, Gedanken verlieren sich. Gleichzeitig gibt es diese kraftvollen, fast ideologischen Aussagen („From zero to hero.“ oder „Ein toxischer Körper ist die Welt ohne uns.“). Wie sind Sie beim Schreiben vorgegangen?  

Es beginnt mit Konzepten, an denen ich mit der chilenischen Dramaturgin Camila Valladares arbeite und zu deren Themen wir viel recherchieren. Diese Ergebnisse teile ich mit unserem Team. Daraufhin improvisieren wir stundenlang. Die Recherche und die Improvisationen werden gesammelt, bis all diese Elemente ineinander greifen, sich gegenseitig informieren und zu einer kohärenten, linearen Geschichte zusammen finden. 

Der Arbeitsprozess mit dieser absolut umwerfenden Besetzung war großartig. Diese Produktion ist auch ihr Werk, und es lohnt sich, sie zu sehen, allein schon, um sich an ihrem außergewöhnlichen Talent zu erfreuen. Es hat so viel Spaß gemacht und es war sehr aufschlussreich, sich mit ihnen in der Mitte zu verlieren.

4. Die Musik des Stückes wird von Diego Noguera komponiert. Welchen Stellenwert hat die Musik in diesem Werk? 

Diego und ich bilden ein kreatives Duo. Wir verstehen unsere Arbeit als etwas, das einem seltsamen Konzert sehr nahe kommt. Musik ist hier nicht nur die Partitur, die man im Stück hört, sondern sie ist von Anfang an als Vorlage oder Arbeitsgrundlage für das Verständnis verschiedener struktureller Möglichkeiten gemeint. In diesem Fall ist zum Beispiel die Geschichte der westlichen Musik und die grundlegende harmonische Progression immer auf eine Auflösung ausgerichtet. Wir haben also viel daran gearbeitet, wie wir auf der Bühne eine „Mitte“ öffnen können, anstatt Spannungen in Richtung Fortschritt zu erzeugen. Also, ja, Diego macht Musik für das Stück. Aber ich würde eher sagen, dass das Stück von Anfang an einer Form der musikalischen Erkundung gleicht, die wir gemeinsam unternehmen.

5. Du bist, was du isst: Das Thema des Hungers, der Ernährung und wie wir uns ernähren, zieht sich durch das Stück. Warum? 

Du bist nicht, was du isst. Lassen Sie mich versuchen, den Gedankengang hier zu erklären: 

Irgendwann stießen wir auf einen Text, in dem es um die zyklischen Zeiten im Körper ging, im Gegensatz zu dieser aufgezwungenen linearen Zeit der westlichen Geschichte. Atmung, Verdauung, Herzschlag und so viele andere körperliche Prozesse funktionieren als Kreise, Loops, innerhalb des Körpers. Hunger und Sättigung sind eine Art Grundrhythmus, in dem wir leben. Als ich darüber nachdachte, mit dem Begriff der Mitte in dem Stück zu arbeiten – eine Art Grundzustand, der die Logik der Spannung in Richtung eines aufgeschobenen Endes untergraben könnte -, erschien die Verdauungszeit als eine klare, starke Schleife, auf der man stehen kann.

Später stieß ich auf ein fantastisches Buch von Elizbeth Groz mit dem Titel „Becomings. Explorations on Time memory and Futures„. Hier spricht sie über die Politik der verlorenen Sache. Die hoffnungslose Sache; die Sache, die gerade deshalb geadelt wird, weil sie hoffnungslos ist und keine Aussicht auf Erfolg hat. Diese Idee hat mich fasziniert. Wie sähe eine Politik aus, die eine andere Zeit, eine andere Dimension in die täglichen Kämpfe der Politik einführt? Wie sähe eine Politik aus, die nicht auf die Verwirklichung von Zielen in der Zukunft, sondern auf die Abkehr von Zielen zu Gunsten einer Politik des Jetzt ausgerichtet wäre? Diese beiden Dinge brachten mich auf den Hungerstreik und die Idee einer Verdauungszeit oder einer Verdauungspolitik. Eine dringende, nicht-progressive Form des politischen Kampfes.

6. Die Idee eines Happy Ends ist im Allgemeinen mit einem Helden oder einem Märtyrer verbunden. Jedoch leben wir in einer Zeit, in der das Kollektiv immer mehr als Entscheidungsträger gefordert wird. Kann ein Kollektiv ein Happy End herbeiführen oder ist dies Wunschdenken? 

Ich glaube nicht, dass das Ende real ist. Ich glaube, wir leben in der Mitte. Kann das Kollektiv dazu beitragen, in der Mitte zu überleben? Ja. Das hat der chilenische Aufstand im Jahr 2019 gezeigt. Alle Formen der kollektiven Organisation übernahmen den Takt des politischen Kampfes. Es ging darum, sich im harten Überlebenskampf in der Mitte gegenseitig zu unterstützen. Alle politischen Projekte, auch die der Linken, deren Umsetzung in die Zukunft verschoben wurden, wurden unerträglich, geradezu lächerlich. 

7. In « Wie alles endet » wird einerseits auf das Ende gewartet; andererseits scheint es auch darum zu gehen, wie alles angefangen hat, wie eine Geschichte erzählt wird und von wem? 

Es geht um das zwanghafte Bedürfnis nach einem Ende, da es der Geschichte eine gewisse Kohärenz verleiht. Es geht darum, wie gewalttätig diese Kohärenz gegenüber allem ist, was nicht in den etablierten Bogen passt. Es geht darum, woher diese Idee einer kohärenten Geschichte kommt, wie sie in unserer DNA als westliche Geschichtenerzähler und Zuschauer verankert ist. Und es geht darum, was eine Politik aus der Mitte heraus sein könnte.

8. « Verzauberung » ist das Schlagwort dieser Festivalausgabe. Inwieweit spielt dies in Ihren Arbeiten eine Rolle?

Dieses Wort ist grundlegend dafür, wie ich meine Arbeit beschreibe. Ich sage gerne, dass das, was ich mache, eine Form des verzauberten Philosophierens ist. Mit verzaubert meine ich gesungen -chanting-, in dem Sinne, dass ich mein Hauptmedium als Rhythmus und nicht als Worte oder Bedeutung betrachte (auch wenn es in der Theaterproduktion Worte und Bedeutung gibt). Und auch verzaubert in dem Sinne, dass ich meine Arbeit als so etwas wie einen Tanz um Themen betrachte, die ich nie verstehen, nie erfassen werde. Das ist es, was ich ein nicht-humanistisches Theater nenne. Es geht um einen ethischen Ansatz, nicht um ein Thema. Es geht darum, das Theater als etwas zu betrachten, das auf eine verzauberte Art und Weise in sich selbst denkt, über geheimnisvolle Dinge, über Dinge, die uns übersteigen. Es ist im Grunde ein Theater aus der Mitte.

Foto: Manuela Infante I Christian Knörr

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