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Sven Heier, Direktor des Theater Roxy in Birsfelden, über den Lockdown in der Schweiz: “ Wir haben einen Auftrag und dem müssen wir gerecht werden.“

Sven Heier_theater roxy-2018_09_10_©Mara Flueck-szenik

Vor ein paar Wochen hat der Schweizer Bundesrat die Zuschaueranzahl in den Kultureinrichtungen auf 50 Personen gesenkt. Für viele Häuser bedeutete dies entweder die Schließung ihrer Bühne oder eine erneute Umgestaltung ihres Spielplans. szenikmag hat sich mit Sven Heier, Direktor des Theater Roxy in Birsfelden, über diese neuen Maßnahmen und ihre Konsequenzen auf die freischaffende Kunstszene unterhalten.

Die Reduzierung des Publikums auf 50 Personen wurde vor ein paar Wochen vom Schweizer Bundesrat beschlossen. Wie haben Sie diese Ankündigung durchlebt? Fanden vorab Gespräche zwischen dem Bundesrat und den Kulturschaffenden statt?

Sven Heier: Es gibt mehrere unterschiedliche Verbände,  die auch in sogenannten Task Forces sitzen und ich schätze mal, dass diese schon im Vorfeld versuchen oder versucht haben Kontakt mit dem Bundesrat aufzunehmen. Aber, ganz ehrlich, mit uns nimmt natürlich niemand Kontakt auf. Wir sind im Vergleich zu vielen anderen Häusern im Land ein relativ kleines Haus, aber ich weiß auch nicht von einem der großen Häuser, dass vorab zu einem Gespräch eingeladen wurde. Und ich finde, das stellt ein Problem dar, denn diese Maßnahmen werden in so einem komischen Mechanismus verbreitet, dass heißt zuerst wird eine Pressekonferenz angekündigt, dann teilen irgendwelche Boulevard-Journalisten erst einmal Gerüchte, dann unterhält man sich tagelang darüber, um dann zu erfahren, dass die Maßnahmen ab Mitternacht gelten… Man kommt sich dabei wie bei einer mittelmäßigen Fußball-WM-Auslosung vor. 

In einem Betrieb mit vier MitarbeiterInnen bekommt man die Umsetzung der Maßnahmen natürlich relativ schnell geregelt, aber in einem Haus mit 450 MitarbeiterInnen stelle ich mir das fast nicht machbar vor. 

Alarmstufe Rot I Theater Roxy

So manche Schweizer Häuser haben daraufhin die Türen geschlossen. Was hat Sie dazu gebracht im Theater Roxy weiterzuspielen? 

S. H. : Die Frage hat sich gar nicht für uns gestellt. Wir sind ein subventioniertes Haus und ich finde die Frage der Tragbarkeit ist nicht richtig. Wir sind kein wirtschaftliches Unternehmen. Ein Opernhaus trägt sich auch nur wenn jeder 500€ bezahlt, also wenn es nicht subventioniert ist. Aber das ist auch ein Auftrag, den wir haben und dem muss man gerecht werden. Ins Roxy passen bei einer normalen Vorstellung etwa 160 Personen. Wir haben aber sehr viele Projekte, die nicht in einer klassischen Bühnen-Tribünen-Form stattfinden, dass heißt wir machen auch Projekte, denen nur 25 ZuschauerInnen beiwohnen können aufgrund der künstlerischen Raumsituation. Bei uns sieht ein Publikum von 50 Personen auch nicht schlimm aus, im Gegensatz zu einem 800 Menschen-Haus. 

„50 Plätze für euch“ I Theater Roxy

Das Theater Roxy unterstützt viele Kompagnien und Kollektive. Was heißt denn diese Situation gerade für die freischaffenden KünstlerInnen, die Sie (ko)-produzieren? 

S. H.: Wir haben alle Produktionen, die aufgrund des Lockdowns ausgefallen sind, bezahlt. Und wir haben es jetzt fast geschafft, dass alle Projekte, die wir verschieben mussten oder die ausgefallen sind, wieder aufzunehmen. Ein Projekt, ein Gastspiel aus Zürich, mussten wir aber leider absagen. Das Team hatte daraufhin die Idee aus seinem Dokumentarstück, in dem auch nur ein Mensch auf der Bühne stand, einen Film zu machen. Während des Lockdowns haben wir ihnen das Haus gegeben, damit sie zwei Wochen lang zu fünft ihren Film drehen konnten. Also, die hatten irgendwie einen anderen Nutzen aus diesem Lockdown (lacht). Aber das ist auch gleichzeitig so tragisch, denn ihre Vorstellung in Bern letzte Woche musste ebenfalls abgesagt werden, denn in der Stadt sind alle Einrichtungen geschlossen. 

Für diese freischaffenden KünstlerInnen und Kompagnien ist diese Situation teilweise schon schwierig oder auch fast prekär. Ich finde, wir als Haus dürfen gar nicht jammern. Ich meine, ich weiß wieviel Geld ich Anfang des Jahres zur Verfügung habe, deswegen habe ich auch alle Produktionen und MitarbeiterInnen bezahlt. Wenn der Lockdown kommt und ich bezahle nicht die Künstler, dann mache ich ja Gewinn aus der Situation. Ich meine, wir können erst anfangen zu jammern, wenn jemand anfängt unsere Subventionen in Frage zu stellen. Deswegen sollten wir uns als Häuser extrem solidarisch verhalten und unsere KünstlerInnen unterstützen, ansonsten haben wir bald nichts mehr, was wir auf unseren Bühnen zeigen können. 

„Die Frau mit der Seifenkiste“ von Vorschlag:Hammer I Stephan Glagla

Unser Projekt Mixed Pickles ist aber gerade in solchen Zeiten ein Mammut-Projekt, weil man 14 Leute hat und die ganze Zeit schauen muss, das nichts passiert und alle Regeln eingehalten werden. So haben wir derzeitig fast schon Luxusprobleme, schließlich ist die Premiere unserer neuen Produktion bei nur 50 zugelassenen ZuschauerInnen seit über einer Woche ausverkauft. In sieben Jahren musste ich zum ersten Mal ZuschauerInnen nach Hause schicken. 

Wurden denn schon Unterstützungsgelder für die freischaffende Szene zugesagt? 

S. H.: Im Prinzip schon. Also über die unterschiedlichsten Verbände und es gibt auf jedenfall Ausfallentschädigungen, wie auch bereits im ersten Lockdown. Da gibt es Summen, die vom Bundesrat genehmigt wurden und die der Kanton dann noch einmal verdoppelt hat. Aber diese ganze Prozedur zieht sich eben sehr lange hin. 

Währenddessen in Frankreich und Deutschland der Lockdown voraussichtlich nur einen Monat dauern soll, hat der Bundesrat in der Schweiz kein Datum und damit genaues Ende bekannt gegeben. Wie sind denn die Aussichten und wie gehen Sie damit um? 

S. H.: Genau das ist das Fatale daran! Die Maßnahmen gelten eine unbestimmte Zeit und gerade „unbestimmt“ bedeutet für ein Theater eine totale Ungewissheit in Bezug auf die Planung und Umsetzung des Spielplans. Das Roxy hat einen relativ flexiblen Planungshorizont, aber trotzdem planen wir gerade das Programm von Januar bis Juni. Das geht auch mehr oder weniger irgendwann in den Druck, wenn man das Gefühl hat nicht nur Altpapier zu produzieren. Ja, wir planen einfach. Aber sobald man in einem größeren Haus arbeitet, ist dies so kaum durchführbar. 

„Die Frau mit der Seifenkiste“ von Vorschlag:Hammer I Stephan Glagla

In Tessin wurden gestern Abend die Maßnahmen verschärft; also man darf sich nur noch mit fünf Leuten treffen. Das bedeutet, dass sofort alle Theater zugemacht werden mussten. Interessanterweise gab es da aber eine große Initiative, die im gleichen Tenor erklingt wie hier oder auch in Deutschland: „Warum werden die Theater geschlossen und nicht die H&M-Läden? Warum sind die Casinos auf?“. Und innerhalb von ein paar Stunden haben sie es geschafft, diese Regelung zurückzunehmen und dürfen nun wieder spielen, wenn auch nur vor max. 30 Personen. Also es gibt schon Bewegungen dagegen und teilweise Erfolge.

Es gibt nun wirklich die unterschiedlichsten Ansichten zu diesem Thema. Thomas Ostermeier hat vor Kurzem in einem Interview z. Bsp. die Schließung der Kultureinrichtungen in den Wintermonaten vorgeschlagen. 

S. H.: Diese ganze Situation ist ja geprägt von einer extremen Ratlosigkeit sowohl von normalen BürgerInnen bis hin zu VirologInnen und PolitikerInnen; also mit denen möchte ich auch nicht gerade tauschen. Aber man sieht auch die ganzen Nebeneffekte. Wenn man zum Beispiel das Haus öffnet und 50 Personen hineinlässt, trifft man derzeitig auf ein sehr dankbares Publikum. Die Menschen sind gerade so glücklich auch mal etwas anderes erleben und gemeinsam unternehmen zu können. Und darum geht es uns in dem Kontext. Natürlich ist das keine Freizeitaktivität.

Also für den Besucher hat das unter Umständen natürlich ein Freizeitpotential. Aber die Gesellschaft muss lernen mit diesem Virus umzugehen (mit allen komischen Nebeneffekten, die dieser nun einmal hat), daher glaube ich nicht, dass das Einschließen in unsere Wohnungen die Lösung ist. Damit produzieren wir nur seltsame andere Krankheiten, Probleme, Depressionen, häusliche Gewalt… Ich glaube wirklich nicht, dass das der richtige Schritt ist und dann sollte man auch einmal den Kontext betrachten. Ich meine, so ein H&M-Geschäft wird nie geschlossen. Hier in Basel hat das Casino bis morgens um 5 Uhr auf und die Museen haben auch alle normal geöffnet und unterliegen nicht den Regeln der Veranstaltungsorte. 

Natürlich habe ich das Interview mit Thomas Ostermeier gelesen; ich habe auch den Artikel von Esther Slevogt (Chefredakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de . Hier geht es zum Artikel. ) gelesen… Ich habe auch den ganzen Shitstorm gelesen, was man eigentlich nicht tun sollte, aber teilweise fand ich den auch berechtigt.

Theater Roxy I Paula Reissig

Warum?

S. H.: Man kann ja die Meinung haben, dass man alles zu machen sollte, aber ich glaube, das ist auch eine Gefahr gegenüber der Politik, wenn man sich selber dazu entscheidet, sein Theater zu schließen. Besonders wenn man in einem subventionierten Verhältnis steht und einen Auftrag hat. 

Sie sagten, dass Sie derzeitig am Programm der Monate Januar bis Juni arbeiten. Konzentrieren Sie sich dabei eher auf lokale oder regionale Kompagnien aufgrund der aktuellen Situation? 

S. H.: Unser Hauptaugenmerk liegt bei unseren eigenen Produktionen schon vermehrt auf Kompagnien aus der Gegend. Aber wir haben auch diverse Gastspiele geplant. Aktuell sind wir eher Profiteure von der Situation; wir haben drei Gastspiele aus Deutschland eingeladen und dadurch, dass die Zahlen hier höher sind als in Deutschland, müssen die KünstlerInnen hier nicht mehr in Quarantäne. Also die Lage hat sich für uns als Haus vereinfacht. 

Für das nächste Halbjahr haben wir also wie gewohnt weiter geplant. 

„Under Pressure“ von Henrike Iglesias I Dorothea Tuch

Henrike Igleasias zeigt in den kommenden Tagen eine Live-Aufnahme aus dem Theater Roxy; Marion Siéfert arbeitet an einem Instagram-Live. Was halten Sie im Allgemeinen von den Streaming-Angeboten und digitalen Formaten? 

S. H.: Ganz persönlich finde ich das etwas zwiespältig. Für mich ist der Live-Moment im Theater natürlich am Wichtigsten. Im ersten Lockdown gab es ein interessantes Projekt des Kollektivs Vorschlag:Hammer mit dem Stück, das sie bei uns im letzten November präsentiert haben: „Twin Speaks“, eine Produktion mit BewohnerInnen aus Birsfelden. Das hatte aber den technischen Vorteil, dass es bis zu 60% aus sehr guten Filmmaterial bestand und die Dialoge einfach über diese Telegramm-Version liefen. Das Projekt von Henrike Iglesias ist auf einer Art Gameshow aufgebaut, so wie bei Germany’s Next Top Model. Hierbei müssen die BesucherInnen über ihr Smartphone abstimmen, sodass sich diese Form auch leicht  in ein Videoformat übertragen lässt. 

Aber so ein Theaterabend bei dem drei Kameras im Saal stehen? Das fand ich schon vor Covid-19 anstrengend, wenn mir solche Videos geschickt wurden. Aber ich finde auch Fußball im Fernsehen schwierig. Was wir können zeigt sich doch nun wirklich auf der Bühne und im Theatersaal! Und das ist etwas, dass man nicht missen sollte. 

„Under Pressure“ von Henrike Iglesias I Dorothea Tuch

Interview: j. lippmann
Am 11. Novembre 2020 I Zoom
Foto Sven Heier: Mara Flueck

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