Website-Icon szenik

Sasha Waltz: „Ein tanzender Körper ist wie das Öffnen der Seele nach außen.“

Sasha Waltz_Sasha Waltz_c_Andre Rival_szenik

Im Rahmen der Aufführungen von „Allee der Kosmonauten“ im Straßburger Maillon-Theater hat sich #szenikmag mit der Choreografin Sasha Waltz unterhalten. Ein Gespräch über die Umsetzung dieses Werkes und die Rolle von KünstlerInnen in unserer Gesellschaft. 

szenik: Für „Allee der Kosmonauten“ haben Sie Interviews mit Bewohnern in Berliner Plattenbauten geführt. Wie war Ihre Vorgehensweise, um nicht in eine Karikatur zu verfallen?

Sasha Waltz: Der Arbeitsprozess war insofern ungewöhnlich, weil es sich eigentlich um eine Sozialstudie handelte. Es hat ungefähr ein Jahr gedauert, um überhaupt erstmal mit den Bewohnern in Kontakt zu treten und diese zu überreden Interviews zu führen. 

1995 habe ich die Studie begonnen; 1996 kam das Stück heraus. Eine solche Studie fünf Jahre nach der Wiedervereinigung zu führen, stieß auf große Skepsis und Widerstand. Erst der Zugang zu einer Familie hat tatsächlich für weitere offene Türen gesorgt. In diesen Plattenbauten herrschte zu der Zeit ein großes Gemeinschaftsgefühl; man kannte sich untereinander. 

Ich habe viel Zeit mit den Interviews verbracht und im Anschluss daran habe ich mit dem New Yorker Videofilmer Elliot Caplan Videos gedreht. Er hat zum Beispiel die Wohnungen der Interviewpartner aufgenommen. Dieses dokumentarische Videomaterial ist auch in „Allee der Kosmonauten“ zu sehen und hat aus heutiger Sicht schon fast einen historischen Charakter. 

Foto: Eva Raduenzel

Wir haben zudem sehr viele Außenaufnahmen von dem Gelände in Marzahn gemacht. Dieser ganze sozialistische Plattenbau basiert ja auf einer utopischen Idee des neuen und bezahlbaren Wohnens. Den BewohnerInnen standen hier zum Beispiel auch ein Schwimmbad, eine Kegelbahn und Grünflächen zur Verfügung. 

Mit der Umsetzung habe ich mich daher auch nicht so einfach getan. Die Fragen nach der Form und der Erzählweise haben eine wichtige Rolle gespielt. Die Interviews dienten als Fundament eines Nachdenkens darüber, wie Zusammenleben funktioniert. Das Gleiche habe ich mit meinen TänzerInnen entwickelt (die aus sechs verschiedenen Ländern kommen), sodass wir auch aus eigenen erlebten Geschichten schöpfen konnten. So entstand daraus eine fiktive Familie mit den Charakteren, die uns dann auf der Bühne fragmentarisch ein Zusammenleben erzählen. 

Der Begriff der Karikatur ist dahingehend nicht so unstimmig, da ich diese Familie sehr stark stilisiere. Es ist schon eine Entfremdung oder Überhöhung, aber es finden sich darin sehr viel Liebe, ein kleines Schmunzeln und etwas Selbstkritik wieder. Diese Familie steht für viele Familien. 

Eine Familie bildet etwas Ganzes und hat ihre Eigenheiten. Hin-und wieder scheut man sich etwas vor seinen Eltern oder Geschwistern kundzutun. Sind Sie in Ihren Interviews auf solche Hemmungen gestoßen? 

S. W.: Zugang hinter die verschlossenen Türen zu bekommen war tatsächlich schwierig. Viele haben die Interviews am Anfang klar und deutlich abgelehnt („vor allem nicht mit jemandem aus dem Westen!“). Die Interviews, die ich später geführt habe fanden meistens im Beisein der ganzen Familie statt. Ich bin da auch ganz offen herangegangen und habe das Gespräch sich entwickeln lassen. Um Vertrauen zu bekommen musste man natürlich auch von sich erzählen und sich öffnen. 

Foto: Eva Raduenzel

In einer Wohnung lebten zum Beispiel drei Generationen einer Familie. Die Tochter war ungefähr 20 Jahre und erklärte mir keinen Grund in der Suche nach einer Arbeitsstelle zu sehen, da das Arbeitsamt ihr mehr bezahle… Ich war auch dabei als diese Familie einen neuen Staubsauger, der für sie fast den Stellenwert eines Porsches hatte, geliefert bekam. Die Mutter erzählte mir daraufhin sehr lange von den Qualitäten dieses Geräts. 

Der Innenraum hat mich ebenfalls für diese Studie interessiert. In diesen Plattenbauten gleichen sich im Allgemeinen die Wohnungen in ihren Räumlichkeiten und Strukturen, doch durch die unterschiedlichen Lebensweisen und Ästhetik formuliert sich der Wohnraum neu.  

Wieviel Aktualität findet sich noch in dem Stück wieder?

S. W.: Es ist ein zeitloses Stück, obwohl es heute schon wie ein Zeitdokument wirkt. Da es sich aber um eine Familie handelt verliert es nicht an Allgemeingültigkeit. Vielleicht verändert sich der Charakter des Stücks in den kommenden 30 Jahren (lacht). Ich habe das Gefühl, dass es uns immer noch viel erzählt, da es von einer Familie im Allgemeinen spricht und somit auch aus der Zeit fällt. 

Wieviel eigene Erfahrungen, von Ihnen und den TänzerInnen, steckt in „Allee der Kosmonauten“? 

S. W.:Allee der Kosmonauten“ beruht auf viel Fantasie. Ich habe das Thema sehr überspitzt und auch meine eigenen Familienerfahrungen, Ängste und Vorurteile einfließen lassen. Viele Elemente finden sich in diesem Stück wieder; sowohl der Dialog mit den TänzerInnen als auch meine eigene Geschichte und die dieser Menschen. 

Foto: Eva Raduenzel

Mittlerweile tanzt schon die zweite Generation dieses Stück, bis auf Takako Suzuki und Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola, die immer noch ihre Charaktere interpretieren. 

Es ist sicher interessant zu sehen, wie sich die Körper der zwei TänzerInnen über die Zeit verändert haben und diese die Choreografie wiedergeben? 

S. W.: Ja, auf jeden Fall. Es ist auch ein hoch energetisches und schnell geschnittenes Stück. Tatsächlich war das für manche TänzerInnen nicht mehr in dieser Form machbar. Für die zwei Rollen, die immer noch mit dabei sind und die Eltern spielen, ist es sehr spannend, da sie praktisch in dem Stück altern. Dadurch bekommt es nochmal eine andere Tiefe und es entsteht ein richtiges Generationsgefühl auf der Bühne.

Oft ist das im Tanz  nicht der Fall, da die meisten TänzerInnen zwischen 20 und 30 Jahre alt sind. Dies ist auch ein Punkt, der mich in den letzten Jahren immer mehr interessiert hat, da ich sehr lange mit den gleichen TänzerInnen arbeite (zwischen 20 und 60 Jahren) und ich so auch wirklich ein Bild einer Gesellschaft zeichnen kann. 

Trailer „Allee der Kosmonauten“

Welchen Platz hat die Welt im Allgemeinen in Ihren Choreografien? 

 S. W.: Ich würde meine frühen Werke schon als sozialrealistische Stücke bezeichnen. Es ging dabei immer um Untersuchungen von kleineren Gruppen und das hat sich im Laufe der Zeit nur erweitert. Mit der Größe der Gruppe änderten sich auch die Umstände. Dann gab es eine Phase, in der ich mich eher abstrakten und philosophischen Fragen zugewendet habe. 

Daraufhin kam ich schnell wieder zu politischen und gesellschaftlichen Themen, da sie mich sehr interessieren und ich diese verarbeiten, diskutieren möchte. „Wie können solche Themen körperlich umgesetzt werden?“, ist ein Gedanke, der mich sehr beschäftigt. Dabei geht es vielmehr darum einen Ausdruck, und weniger eine Antwort, zu finden.

„Gezeiten“ von Sasha Waltz I Foto: Gert Weigelt

In meiner Arbeit ist dies ein durchgängiger roter Faden, der manchmal auch ganz bewusst angesprochen wird. Zum Beispiel in „Gezeiten“; einem Stück, in dem ich mich mit Umweltkatastrophen und Traumata, die sich daraus ergeben, beschäftigt habe. 

In den letzten fünf Jahren habe ich auch damit begonnen, eine ganz spezifische Reihe zu entwickeln, die über das Stück selbst hinausgeht. Das Projekt nennt sich „Zuhören“ und war eigentlich eine Reaktion auf die Flüchtlingskrise im Jahr 2015. Ich finde, dass wir als Künstler viel aktiver und stärker mit unseren Erfahrungen, Werkzeugen und Möglichkeiten auch in die Gesellschaft wirken und ihr beistehen können. So habe ich in der Zeit Workshops für unbegleitete Minderjährige ins Leben gerufen und einen Begegnungsraum geschaffen, in dem ein Austausch und Kunst stattfinden können. (Das Projekt „Zuhören“ findet seit 2015 jährlich statt.)

Dabke Community Dancing im Rahmen von Zuhören I Foto: Jason Krüger

Was kann ein Körper, dass Worte nicht ausdrücken können? Vor allem wenn es um soziale oder politische Fragen geht? 

 S. W.: Ich glaube im Körper schwingen sehr viele unterschwellige Gefühlszustände. Atmosphären können viel stärker ausgedrückt werden. Gerade wenn es um Ängste, Verluste, Verarbeitung von Traumata oder undefinierte Stimmungsbilder geht. Solche Bilder sind aber manchmal auch in einer Gesellschaft beheimatet, zum Beispiel diese ganze schwelende Bedrohung, die nach den Anschlägen des 9. Septembers herrschte. Da konnte der Körper viel deutlicher Form geben, weil es so unspezifisch war. Ich glaube dafür ist der Körper wirklich ein gutes Medium.

Es ist wie ein Öffnen der Seele nach außen, also ins Physische, Materielle. 

Allee der Kosmonauten“ von Sasha Waltz & Guests vom 14. bis 17. Oktober 2020 im Maillon-Theater in Straßburg.
Informationen zu den Vorstellungen auf szenik.eu.

Interview: j. lippmann
Am 6.10.2020. Das Gespräch wurde per Telefon geführt.
Porträtfoto: André Rival

Die mobile Version verlassen