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Perspectives 2022 – Theaterkollektiv Markus & Markus im Gespräch zu „Die Brieffreundschaft“: Wie werden zukünftige Generationen auf unser heutiges Strafen blicken?

Medea, Judith, Lady Macbeth – das sind drei der gewalttätigen, mordenden, klassischen Dramenheldinnen, denen wir sonst im Theater begegnen. Eigentlich müssten sie im Gefängnis sitzen. Das Theaterkollektiv Markus&Markus hat Mörderinnen aus dem echten Leben in ihren Gefängnissen kontaktiert und begonnen, ihnen Briefe zu schreiben. szenik hat sich mit dem Kollektiv vor seinem Auftritt beim Festival Perspectives in Saarbrücken über dieses sehr interessante Stück unterhalten.

Das vierköpfige Kollektiv hatte für sein vorhergehendes Stück Die Berufung einen Aufruf per Flaschenpost gestartet, Personen oder Projekte zu nennen, die sich für Menschlichkeit einsetzen. Eine Antwort war die Idee, Brieffreundschaften mit lang inhaftierten Menschen einzugehen. Im Laufe der Recherche ist die Theatergruppe mit vier zu lebenslänglicher Haft verurteilten Frauen in Kontakt getreten, alle vier in US-amerikanischen Gefängnissen. Eine Brieffreundschaft und damit die Grundlage für ihr neues Stück entstand. Die Frauen sind nicht nur Protagonistinnen, sondern werden zu Co-Regisseurinnen dieses Dokumentartheaters – wenn sie auch nicht selbst dabei sein können.

Trailer DIE BRIEFFREUNDSCHAFT

Von Penthesilea zu „Orange is the new black“ – Kriminelle Taten und Gefängnissysteme scheinen gleichzeitig zu erschrecken und zu  faszinieren (man braucht sich nur die Erfolge von Krimiserien und -literatur anzusehen). Was interessiert euch an diesen Menschen, ihren Geschichten, an diesem System? 

Ohja, die Theaterstücke, Filme, Serien sind voll mit Menschen, die grauenvolle Taten verüben. Sie werden nicht selten überhöht, entmenschlicht oder als Projektionsfläche benutzt. Wir wollten sie schlicht kennenlernen und fragen wie es ihnen geht, was sie umtreibt, wovon sie träumen.

Unsere Brieffreundinnen werden das Gefängnis mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nie wieder verlassen. Im Grunde könnte man denken, wofür soll man da noch weiterleben? Es kommt ja nichts mehr. Und trotzdem bilden sie sich, studieren, machen Abschlüsse, arbeiten an sich und der Welt und suchen vor allem den Austausch. Sie lieben Spaghetti ohne Sauce, Bücher von Joni Murphy, Bilder von Artemisia Gentileschi oder die Berge ihrer Heimat. Sie sind Menschen wie Du und ich. 

„Wir interessieren uns für starke Protagonistinnen“, erklärt ihr in dem Stück. Woher kommt dies und warum habt ihr euch gerade für Frauen als Korrespondentinnen entschieden? 

Im Stück haben wir eine Protagonistin, die besonders gerne liest, insbesondere Bücher mit starken Protagonistinnen. Und während wir dies auf der Bühne von ihr erzählen, aus ihren Briefen, führen wir gerade selbst ein Stück über starke Protagonistinnen auf, von denen sie eine ist. Das ist zunächst mal eine Dopplung, in der literarische Figuren auf unsere Brieffreundinnen treffen. 

Für die Korrespondenz mit Frauen haben wir uns entschieden, weil wir das Gefühl haben, dass diese Geschichten weniger erzählt sind. Wir haben ja so etwas wie eine „Verteil-Macht“, da stellt sich die Frage, welche Geschichten wir mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln auf der Bühne erzählen. Es gibt viele Erzählungen über Männer. Und wir wollten diesen Frauen eine Stimme geben.

Ihr sagt „Wir erzählen keine Dramen.“ und doch durchstreifen Begriffe wie „Zelle“, „Freizeitkäfig“, „Einzelhaft“, „Schutzhaft“, „Mord“ diesen Theaterabend. Die Korrespondenz mit diesen vier Frauen wiedergebend, scheint ihr aber doch ein Drama zu erzählen – ein sehr reales Drama… 

Ha, erwischt. Der Satz „Wir erzählen keine Dramen“ ist natürlich Mumpitz. Er fällt so ähnlich in einem frühen Brief, als wir mit einer Brieffreundin darüber schreiben, ob sie mit uns ein Theaterstück entwickeln will. Wir versuchen unsere Form zu beschreiben, indem wir schreiben, dass wir eben nicht Penthesilea auf die Bühne bringen. Und dann führt er aber direkt ins Herz unserer Arbeit, der dramatischen Realität. Es ist der Versuch zu sagen, Penthesilea, das bist Du und wir wollen Dich fragen, ob Du Lust hast mit uns ein Drama auf die Bühne zu bringen. 

Ihr habt mit den vier Insassinnen über die Entstehung eines Theaterstücks gesprochen. Dabei wurde vermutlich auch über die Beziehung zum Theater im Allgemeinen diskutiert. Was habt ihr daraus mitgenommen, gelernt? 

Nicht nur über die Beziehung zum Theater, auch zur Literatur, Radio, Musik, Film, Bildender Kunst. Die Protagonistinnen sind schon für unvorstellbar lange Zeiträume im Gefängnis. 

Sie haben trotzdem unglaubliche Kenntnisse, verschlingen Bücher, versuchen jedes Hörspiel zu hören, reflektieren die Entwicklung der Künste. All das mit erheblich eingeschränktem Zugang zu all dem. Wenn die Bibliothek dann plötzlich über Monate geschlossen hat und wir ihnen nur mit starken Auflagen Bücher zukommen lassen können, das führt vor Augen wie essentiell der Zugang zur Kunst ist und welch enorme Kraft sie hat. 

Vier Frauen haben sich euch in ihren Briefen anvertraut. Es ist schon bemerkbar, welch innige Beziehung in einer Briefkorrespondenz und auf dem Papier entstehen kann. Wie fühlt ihr euch damit, diese Vertrautheit und persönlichen Worte auf einer Bühne und vor fremden Personen wiederzugeben?  

Es ist ein schönes Gefühl, dass wir die Gedanken, Visionen, Werke der Protagonistinnen mit dem Publikum teilen können. Sie haben uns diese Dinge quasi unter einer verschlossenen Türe durchgeschoben um sie zugänglich zu machen. Was die Vertrautheit anbelangt, da sind wir ja letztlich für das, was auf der Bühne geschieht und erzählt wird, verantwortlich – in dieser Konstellation nochmal in gesteigertem Maße. Dem versuchen wir gerecht zu werden und haben immer versucht, so gut es geht mit den Brieffreundinnen zu besprechen, was wir dort tun, was wir erzählen. Das haben wir von Anfang an thematisiert und das war sicher auch eine Grundvoraussetzung, dass diese Arbeit überhaupt zustande kommen konnte. Dass wir eben nicht einfach nur Innenblicke aus dem Gefängnis sammeln und diese dann verbraten und dann tschüss, war schön. So war das Theaterstück selbst auch immer nur ein Aspekt von vielen in den Briefen. Und es war immer klar, dass die Brieffreundschaft nicht mit dem Theater steht und fällt. Was das Teilen der eigenen Bilder und Gedanken für eine Protagonistin selbst bedeutet, hat sie, nachdem sie Bilder von einer Aufführung gesehen hat, so geschrieben: 

„I admit to crying profusely when I saw the photos. And when I read on the projection screen what I´d written about hope, I could not stop crying. I think it´s safe to say no inmate anywhere – or the people who put the inmate in prison (or maintain that incarceration) would ever expect that inmate´s words or artwork to cross the globe and touch multiple audiences. It was a wonderful feeling to see my art up there and other people understanding a smidgin of what I feel or see or think.”  

Themen der Menschlichkeit und der gegenseitigen Verantwortung durchziehen diese Produktion. Was nehmt ihr aus dieser Recherchearbeit mit? Haben sich eure Blicke auf Themen, wie z.Bsp. der Strafsysteme, der Strafbedingungen, des Wachpersonals verändert? (Gerade im Hinblick auf eine der letzten Szenen, in welcher der Gerichtsadler die Taube ermordet.) Klagt ihr hier ein System an, dass Menschen in die Knie zwingt und „vernichtet“? 

Die ganze Frage des Strafens ist völlig ungeklärt. Was sind die Ziele? Wen sperren wir weg und wozu, wer profitiert? Verfolgen wir die Ziele wirklich oder sind sie eher für die Marketing-Broschüre? Kümmern wir uns um Ursachen oder um Symptome? Das Menschengemachte der Gesetze und Strafen, der Systeme. Eine Brieffreundin fragt in einem Brief: „Warum denkt das Gefängnis, wenn man Gefangene hungern lässt, passiert irgendwas Positives?“ Heute blicken wir auf die Verbrennung sogenannter Hexen zurück, die war eben zu der Zeit völlig ok. Wie werden zukünftige Generationen auf unser heutiges Strafen blicken?

Neue Zeiten erfordern neue Theaterformen und eine Reflektion über die ProtagonistInnen, denen wir zuhören sollten. Inwieweit arbeitet euer Kollektiv an diesem Thema und dem Versuch, die Realität wiederzugeben? Ist die Bühne für euch eine Art Kaleidoskop, durch die ihr die Welt betrachten könnt und wie wird das Publikum in diese Recherchearbeit integriert? 

Wir als Kollektiv haben die Möglichkeit über unsere Arbeiten Menschen nahe zu kommen, die sich in verschiedenen Situationen, Systemen befinden. Wir empfinden das als großes Privileg. Und wir versuchen unsere Einblicke dem Publikum weiterzugeben. Wir beschäftigen uns in unserer Recherche immer damit, was der Ausgangspunkt des Publikums ist und wie wir weitere Perspektiven entwickeln können. Da gibt es natürlich nicht den einen Weg, das Publikum ist ja auch kein Klumpen mit einem gemeinsamen Hirn, Erfahrungs- und Gefühlshorizont. Aber gerade in Überprüfungen vor Zuschauer_innen vor unserer Premiere, aber auch schon viel früher, in den Recherchephasen, in Begegnungen und Gesprächen – mit Personen, die nicht die Protagonist_innen sind – bekommen wir ein Bild davon, was die Menschen umtreibt. 

Was das Kaleidoskop anbelangt – eine schöne Metapher – wollen wir gerne noch auf die popkulturellen und theaterhistorischen Glassteinchen im Innern hinweisen, welche die Spiegelungen erzeugen. Und diese Erzählung von Realität, die wir durch dieses Fernrohr dann in verschiedenen Mustern sehen können, die interessiert uns.

Eine letzte Frage: Wie geht es nun mit den vier Korrespondenzen weiter? 

Wie mit den meisten anderen Freundschaften wahrscheinlich auch. Sie existieren, werden gepflegt, verändern sich, verfestigen sich oder verlaufen sich. Es sind Brieffreundschaften, aus denen eben auch ein Theaterstück entstanden ist. Die Beziehungen enden nicht mit einer Premiere, das wäre gegen alles wie und warum wir diese Arbeit machen.  

DIE BRIEFFREUNDSCHAFT
Markus&Markus Theaterkollektiv
Konzept und Umsetzung Markus&Markus Theaterkollektiv (Lara-Joy Bues, Katarina Eckold, Markus Schäfer, Markus Schmans)

Am 3. Juni 2022 um 18 Uhr & 21 Uhr – Alte Feuerwache, Saarbrücken
in deutscher Sprache mit französischer Übertitelung

Weitere Informationen: www.festival-perspectives.de

Foto: Kyra Paulig

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