Website-Icon szenik

„Orpheus + Eurydike“ im Theater Freiburg: Interview mit der Choreografin Erna Ómarsdóttir

Die Isländerin Erna Ómarsdóttir gilt als eine der talentiertesten Choreographinnen ihres Landes. Mit „Orpheus + Eurydike – Die orphischen Zyklen“ präsentiert sie ab dem 17. Dezember im Theater Freiburg eine neue Produktion. Das Stück, das sich zwischen Tanz und Borderline-Musical befindet, betrachtet den griechischen Mythos von Orpheus und Eurydike in einem sehr zeitgenössischen Licht. Eine Zusammenarbeit zwischen den SchauspielerInnen des Theater Freiburg und der Iceland Dance Company.

Wie könnte man Ihre neue Produktion „Orpheus + Eurydike – Die orphischen Zyklen“ zusammenfassen?

Erna Ómarsdóttir: Es ist schwierig, das Stück zusammenzufassen. Die Handlung basiert auf dem Mythos von Orpheus und Eurydike, aber es ist eine Neuinterpretation,  die auch andere Geschichten der griechischen Mythologie auffasst, wie die Entführung von Persephone oder die zerstörerische Liebesbeziehung zwischen Jason und Medea. Griechische Mythen sind Geschichten, die unzählige Male erzählt wurden; es sind bekannte Geschichten, die ihre Wurzeln in einer Gesellschaft haben, in der die Weltanschauung und ihr Verständnis sehr unterschiedlich war.

Uns geht es darum, diese Ansichtsweisen zu hinterfragen und sie wie einen Spiegel in Bezug zu unserer heutigen Gesellschaft zu setzen. Um das zu erreichen, sind wir zum Kern dieser Mythen vorgedrungen und haben uns um sie herum gedreht. Wir haben eine Art Kreis um sie herum geschaffen, die orphischen Zyklen. Auch den Tanz haben wir zyklisch bearbeitet, mit Wiederholungen von Gesten. Das ergibt einen sehr körperlichen Tanz, zu dem wir Gesang, Schreie und Atemzüge hinzufügen, die wie eine Trance oder ein Mantra funktionieren. 

Sie haben gerade den Mythos von Orpheus und Eurydike erwähnt, einen der bekanntesten Mythen der griechischen Geschichte. Warum haben Sie sich speziell für diesen entschieden?

Die Idee kam mir eher zufällig. Ich suchte nach einer Geschichte, die jeder kennt; einer Geschichte, auf die sich die Menschen beziehen können und die bei jedem unterschiedliche Gefühle hervorruft. Vor drei Jahren hatte ich am Münchner Gärtnerplatztheater Romeo und Julia, mit meiner isländischen Truppe, die zu Prokofjews Musik tanzte, wiederaufgenommen. In dieser neue Produktion wollte ich etwas Ähnliches machen und dachte dabei an einen Freund von mir, Jóhann Jóhannsson, der vor einigen Jahren starb. Er war ein großartiger Komponist und Musiker, der dafür bekannt war, dass er die Filmmusik für einige große Hollywood-Produktionen schrieb [insbesondere für Denis Villeneuves „Premier Contact“ (Anm. d. Red.)]. Sein letztes Soloalbum trug den Titel Orpheus, und so kam mir die Idee. Wie bei Romeo und Julia wollte ich die Geschichte nicht einfach neu erzählen – denn das gab es schon hunderte oder tausende Male -, sondern sie erforschen und dann nutzen, um eine neue Geschichte zu erschaffen…

Alte Geschichten neu zu erzählen – ob von Shakespeare oder aus der griechischen Mythologie – ist im Theater eine recht gängige Praxis. Wie haben Sie es geschafft, zu etwas Neuem zu gelangen?

Der kreative Prozess war ziemlich lang. Am Anfang waren wir zu dritt: ich, Gabríela Friðriksdóttir, die für das Bühnenbild und die Kostüme zuständig ist, und Bjarni Jónsson, Autor. Gemeinsam verfassten wir ein erstes Skript, das für uns wie eine Straßenkarte funktionierte. Auf dieser Straßenkarte zeichneten wir fünf Kreise, wobei es in jedem Kreis eine Hauptgeschichte und viele kleine Geschichten gab, die darum kreisten. Wir spielten auch mit der Idee von Paaren, von Duos, denn in der griechischen Mythologie gibt es viele davon: Orpheus und Eurydike, Jason und Medea, Demeter und Persephone…

Dann ging es darum, aus diesen vielen kleinen Geschichten etwas Ganzes zu schaffen. Und das war eine gemeinsame Überlegung, die wir mit den SchauspielerInnen und TänzeInnen führten, denn sie sind ein integraler Bestandteil des kreativen Prozesses. Unsere Idee war zwischen diesen Geschichten zirkulieren zu können, Abstand zu ihnen zu gewinnen und dann wieder in sie einzutauchen. Denn auch wenn diese Geschichten auf den ersten Blick etwas naiv erscheinen mögen, so haben sie in Wirklichkeit viele Facetten und dienen uns als Motor, um weitergehen und weiterdenken zu können.

Wir haben auch versucht, verschiedene Atmosphären zu schaffen und Gefühle zu vermitteln, indem wir verschiedene Werkzeuge eingesetzt haben, wie zum Beispiel den Tanz, den Klang, die Beschaffenheit des Klangs, die Bewegungen. Es ist eine ständige Suche, die eine Art Mix ergibt, den wir gerne als „Borderline-Musical“ bezeichnen.

Was verstehen Sie unter einem „Borderline-Musical“?

Das Wort mag etwas verwirrend klingen, aber es ist das, was mein Mann, Valdimar Jóhansson, und ich am treffendsten fanden. Wir arbeiten, indem wir viele verschiedene künstlerische Genres miteinander vermischen: Tanz, Worte, Gesang, Schreie. Dennoch ist es weder eine Tanzaufführung, noch ein Theaterstück, ein Konzert oder eine Oper. Es ist alles auf einmal. Die Menschen schaffen gerne Schubladen mit klaren Grenzen, in die man alles einordnen kann. Nun, wir versuchen, unsere eigene Box mit unseren eigenen Grenzen zu schaffen. Wenn Sie zum Beispiel auf ein Popkonzert gehen, hören Sie die Lieder eines Künstlers und zwischen den Liedern gibt es diese kleine Zeitspanne, in der er oder sie vielleicht ein paar Worte sagt; eine kleine Zeitspanne, die ein wenig wie ein Ritual wirkt. Auch dieses Format wollten wir nutzen, obwohl es sich in keine Schublade einordnen lässt. 

Neben dem Konzertformat sind es auch viele SängerInnen, die Sie inspirieren. In dem Stück gibt es zahlreiche Anspielungen auf Rock- und Popstars der 70er und 80er Jahre.

Tatsächlich haben wir uns bei der Gestaltung des Stücks sehr stark an den Lieder aus den 70er und 80er Jahren orientiert, da es sich um Titel handelt, die jeder kennt und die eine sehr emotionale Seite haben. Nehmen wir zum Beispiel „Words“ von F.R. Davis, das ist eine Referenz sowohl für die alte als auch für die neue Generation. Und das Interessante an diesen Klassikern ist die Einfachheit der Sprache: Der Text von Kiss ist ein perfektes Beispiel dafür: „I was made for loving you baby, you were made for loving me“. Es ist einfach, ein bisschen kitschig, aber wenn man diesen Kitsch mit anderen Elementen des Stücks verbindet, sei es mit den SchauspielerInnen oder den TänzerInnen die diese Worte sprechen, singen oder schreien, verleiht es ihnen eine ganz andere Bedeutung. Und das war die Idee: Schichten zu bilden und die Lieder in einem neuen Kontext zu verwenden.

Zum Beispiel bekommt der Anfang des Textes von „The End of the World“ von Aphrodite’s Child [„Come with me to the end of the world, without telling your parents or your friends“, Anm. d. Red.] aus dem Mund von Hades, dem Gott der Unterwelt, der Persephone zwingt, ihm in die Dunkelheit zu folgen, eine ganz andere Bedeutung. Dasselbe gilt für Lieder, die von Einsamkeit handeln, und davon gibt es viele. Wenn man sich Einsamkeit wie eine große Finsternis vorstellt, lässt sich mit diesem Bild auch die Welt des Hades neu erforschen. 

Apropos Dunkelheit: Das Stück hat eher einen apokalyptischen Ton. Ist das die Botschaft, die Sie vermitteln möchten?

Es stimmt, dass das Stück ziemlich apokalyptisch ist; es ist düster, hoffnungslos, sehr einsam, es bringt die Hässlichkeit der menschlichen Seele zum Vorschein. Man kann das Gefühl haben, dass die Figuren sich gegenseitig schaden, dass jeder um seine Existenz kämpft, um so die Kontrolle zu erlangen und sich Gehör zu verschaffen. Doch wir werden gleichzeitig Zeuge von gegenseitiger Hilfe und Fürsorge. Das haben wir während des Entstehungsprozesses gespürt: Auch wenn es Schwierigkeiten gab und wir uns mit dem Ego jedes Einzelnen auseinandersetzen mussten, gab es am Ende viel Zuhören, gegenseitige Hilfe; wir haben zusammen getanzt und gespielt. Und ich persönlich habe diesen Dialog, der sich entwickelt hat, sehr genossen: Er war sehr schön und befreiend, und wirkte fast wie eine innige Umarmung. Ich würde mir wünschen, dass das Publikum dies auch so empfindet… Dass ein jeder diese Umarmung spürt und in unserer komischen Welt ein bisschen Liebe erhält. Das mag kitschig klingen, aber das bin ich gerne.

Also ist es letztendlich ein eher optimistisches Stück?

Ich denke, dass nicht alles nur schwarz oder weiß betrachtet werden kann; das Leben besteht aus Farbnuancen. Es kann Dunkelheit oder Dummheit geben, die kurz danach oder zuvor etwas Frohsinn erfährt. Es sind diese Kontraste, die interessant sind; sie sind wie verschiedene Schichten des Lebens. Ich beziehe mich auch gerne auf die Idee des Reisens: Es geht nicht darum von A nach B zu kommen, sondern um die Wege, die man nimmt, um irgendwohin zu gelangen. Im Stück wird die griechische Geschichte von der Suche nach dem Goldenen Vlies erzählt. Aber sobald man das Vlies erhalten hat, bedeutet das nicht, dass man etwas erreicht hat.

Es ist so, als würde man einen Oscar, einen Golden Globe oder den ersten Platz bei den Olympischen Spielen erhalten. Was zählt, ist, dass Sie hart gekämpft haben, um dorthin zu gelangen. Dasselbe Prinzip kann man übrigens auch auf die Liebe anwenden. Die Liebe des Lebens zu finden, ist für viele Menschen ein großes Ziel. Aber wenn man diese Liebe einmal gefunden hat, bedeutet das dann, dass man mit der Suche aufhören kann? Es gibt auch das Bild der Muse: Die Muse wurde von – vorwiegend männlichen – Künstlern oft als kreatives Objekt benutzt. Sie haben sich vorgestellt, jemanden geliebt oder verloren zu haben, und das hat es ihnen daraufhin ermöglicht, Lieder zu schreiben oder zu komponieren. Es ist interessant sich vorzustellen, dass sie eine Muse brauchen, um ihre Inspiration zu erhalten. Es ist auch interessant zu sehen, welchen Platz wir solchen Frauen einräumen.

Taucht das Thema des Feminismus in diesem neuen Stück auf, so wie es vor drei Jahren in Romeo und Julia der Fall war? 

Ja, natürlich ist es ein feministisches Stück. Ich denke, die meisten von uns sind sich einig, dass in unserer heutigen kapitalistischen Welt etwas schiefgelaufen ist. Aber vielleicht ist es auch schon vor Tausenden von Jahren in der griechischen Zeit schiefgegangen, denn auch das war eine sehr männliche Welt, voller Testosteron. Heute sind wir alle ein Teil davon, ich bin da nicht besser als andere. Aber ich möchte diesen Fehler aber wieder gutmachen und den Frauen einen besseren Platz in der Welt einräumen.

Könnten Sie uns ein paar Worte zum Tanz und Ihrer Arbeitsweise sagen? Wie würden Sie diese beschreiben? 

Bei der Verwirklichung meiner Arbeiten stütze ich mich zunächst auf einfache, fast abstrakte Ideen, die schon lange zu meinem künstlerischen Vokabular gehören und mit denen ich Geschichten erzählen kann. Ich beginne zum Beispiel mit einer Schaukelbewegung, nicke mit dem Kopf oder schaukele meinen Körper hin-und her. Wenn man diese Bewegung immer und immer wieder wiederholt, wird sie sich schließlich verwandeln und metamorphosieren. Es ist eine Art unendlicher Entwicklung. Man kann es mit den Wellen des Ozeans vergleichen. Ich denke, wir sollten unserem Körper vertrauen; er ist sehr intelligent, denkt selbstständig und sagt uns, was wir als Nächstes tun sollen. Alles befindet sich im Unterbewusstsein. Die Bedeutung der Bewegungen oder der Handlungen erschließt sich von selbst, ohne dass man sich sagen muss: „Aber warum drehe ich mich im Kreis?“. Der Moment, in dem man plötzlich aufhört zu kreisen, ist ebenfalls ein sehr interessanter Moment. Ebenso wie die Bewegungen einer sich bildenden Gruppe oder Konstellation, die entstehen. Es sind all diese Gesten, die die Motoren der Choreografie sind.

Wie steht es um die Musik ? Folgt sie auch dem Prinzip der zyklischen Wiederholungen?

Ja, und auch hier ist es der Körper, der uns führt. Ich benutze oft die Stimme, nicht nur zum Singen, sondern auch als Textur. Ich mag die primären Klänge, die wir in der Lage sind zu erzeugen; die Klänge, die aus der Tiefe unseres Wesens kommen. Der Schrei zum Beispiel. Ein Schrei ist nicht einfach nur ein Schrei, es gibt viele verschiedene Arten zu schreien, und ich bin in dieser Hinsicht ziemlich wählerisch.

In den letzten Jahren habe ich den Schrei oft verwendet. Es ist eine Technik, an der man arbeiten und die man lernen muss. Man muss seine Stimmbänder stärken, so wie man seinen Körper für den Tanz stärkt; es ist eine sehr körperliche Handlung. Ich arbeite auch mit der Atmung, und auch hier findet man die Idee der Wiederholungen und der unendlichen Kreise wieder. In den vergangenen Jahrhunderten hat man die Atmung viel genutzt, um sich zu beruhigen, um sich zu heilen. Das ist die gleiche Idee. Generell wurde die Musik des Stückes nicht parallel zum Tanz oder den Dialogen geschaffen; sie entspricht einem Ganzen, einer gemeinsamen Reise. Und all diese Teile überdecken sich, immer mit dem Gedanken, Schichten zu schaffen.

Wie verlief die Arbeit mit den deutschen SchauspielerInnen und den isländischen TänzerInnen?

Es war sehr schön. Als wir anfingen, gemeinsam zu einfachen Übungen zu tanzen, entstand eine Art Chemie. Die KünstlerInnen verschmolzen miteinander. Es war, als ob es keine Unterschiede zwischen ihnen gegeben hätte. Obwohl es Unterschiede gibt! Jeder hat sein Spezialgebiet und seine Fähigkeiten, aber sie haben es geschafft, diese zu verbinden. Es war sehr schön zu sehen, wie da etwas auf der Bühne entstand. Sie haben sich umeinander gekümmert, Erfahrungen miteinander geteilt. Jeder hat vom anderen gelernt, die TänzerInnen von den SchauspielerInnen und umgekehrt. Es war nicht immer einfach, denn es kann schwierig sein, diese beiden Kunstformen zu verbinden.

Bei den SchauspielerInnen haben wir viel mit dem Konzept des Loslassens gearbeitet, da sie viel mit Kopf und nicht mit Körper agieren. Wir wollten dem auch nicht völlig entsagen, aber wir haben uns mehr Körpersprache gewünscht. Was mich betrifft, war es sehr bereichernd, da mir oft Fragen gestellt wurden, und es ist gut, in Frage gestellt zu werden, um sich selbst zu zwingen verständlicher zu sein. Wenn ich eine Produktion leite, bin ich nicht im Saal und schaue mir das Ganze von außen an, sondern ich komme auf die Bühne und bin selbst im Chaos, um den Motor von innen heraus in Bewegung zu setzen.

Interview: Tatiana Geiselmann
Am 13. Dezember 2021, Visiokonferenz
Foto: Thomas Kunz

Die mobile Version verlassen