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„Kinder-und Jugendtheater ist für mich gleichverbunden mit Diskussion, Demokratie-und Empathiefähigkeit.“ Interview mit Sven Wisser, Theaterleiter der Jungen Bühne Ulm

Mit dem Theaterleiter der Jungen Bühne Ulm, Sven Wisser, haben wir uns über die Herausforderungen der Stream-Plattform theater-stream.de sowie die Zukunft und den Bildungsauftrag des Kinder-und Jugendtheaters unterhalten. 

Schulen und Kindergärten müssen seit Monaten (buchstäblich) in die Röhre gucken. Gemeinsame Pausen-und Unterhaltungsmomente sind vom Schülerleben gestrichen. Und Kultur? Steht nicht mehr auf dem Stundenplan. So hat die Junge Bühne Ulm vor ein paar Monaten die Plattform theater-stream.de ins Leben gerufen, um Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, weiterhin Theater zu erleben und die Fantasie anzukurbeln. 

Herr Wisser, wie kam die Idee für eine solche Plattform zustande?

Der erste grenzüberschreitende Lockdown hat uns zum Nachdenken gebracht. Wir sind ein kleines Theater mit elf Mitarbeitern und wir haben relativ schnell erkannt, dass uns das länger beschäftigen wird, also über den Sommer hinaus. Daher kam schnell die Frage auf, wie wir mit dieser Situation umgehen können. Gleichzeitig waren wir schon auf der Suche nach einem neuen Projekt. 

Wir müssen uns rechtfertigen, da wir Stadt-und Landesgelder, also Steuergelder, benutzen. Daher ist die Frage nach unserem Auftrag für mich sehr wichtig. In welcher Stadt sitzen wir? Wen sprechen wir an? 

Wir kamen schnell auf die Idee, unser Projekt digital umzusetzen, um den Kontakt zu unserem Publikum zu behalten. Für mich geht es gar nicht um die Frage, ob das die richtige Art der Kunst ist: Es geht um eine Aufrechterhaltung der Verbindung zu unseren ZuschauerInnen. 

Foto: Dreh „Odysseus“ I Markus Hummel

An der Plattform beteiligen sich heute 13 Kinder-und Jugendtheater.
Wie sind Sie bei der Suche nach Kooperationen vorgegangen? 

Zu Anfang hatten wir mit mehreren Ideen (Podcast-Kanal, YouTube-Kanal, Homepage) gespielt. Aber all diese Unternehmen sind in der Regel nur so stark, wie die Partner, die daran beteiligt sind. Also haben wir uns an den Arbeitskreis Junges Theater Baden-Württemberg gewendet, obwohl die Idee einer Stream-Plattform noch nicht geboren war. Nach anfänglichem Zögern haben wir es geschafft, die ersten Mitglieder dafür zu interessieren. So manche Theater hatten anfangs noch die Hoffnung, im Sommer in ihrem Open-Air-Garten vor 20 ZuschauerInnen zu spielen. Das finde ich natürlich gut, aber es ist nun einmal wirtschaftlich eine Katastrophe. Eine ganze Produktion auf die Beine zu stellen und dann vor zehn Kindern zu spielen hilft uns leider finanziell nicht, diese Krise zu überleben. 

Für die Erstellung der Plattform haben wir daraufhin einen Antrag beim Ministerium gestellt, das sehr schnell das Potential darin erkannte und uns eine finanzielle Unterstützung zusagte. 

Bisher kann man das Stream-Angebot online auf der Website abrufen.
Ist eine weitere Ebene, die zum Beispiel Interaktionen zulässt, geplant? 

Alle Inhalte, die derzeitig online gestellt werden, wurden vorab aufgenommen. Aber wir arbeiten bereits an interaktiven Ideen, so wie an der Umsetzung von Livestreams und 360° – Videos.  Wir sind wirklich sehr daran interessiert (und damit beschäftigt) Interaktivität, ein Mitsprachrecht der Zusehenden, zu ermöglichen. 

Inwieweit haben Stream-Angebote schon vor dem Lockdown eine Rolle im Bereich des Kinder-und Jugendtheaters gespielt? 

Eigentlich gar nicht. Oft sind es die größeren Häuser, wie das Leipziger Theater der Jugend, die sich so etwas finanziell leisten können und sich Video-Freelancer dazu holen. 

Vom finanziellen Punkt abgesehen wird es nicht als Notwendigkeit angesehen, weil Kinder-und Jugendtheater von der Direktheit lebt. Es ist nun einmal das Medium, wo man während der Aufführung auch einmal schreit oder wütend wird. Hier wird oft die vierte Wand aufgebrochen; man sitzt im Kreis oder auf dem Boden. Dieser direkte Austausch ist im Kinder-und Jugendtheater gang und gäbe. Daher stellte sich die Notwendigkeit nach einem zweidimensionalen Medium eigentlich nicht. 

„Odysseus“ I Markus Hummel

Doch hat uns der Lockdown nicht die Notwendigkeit gezeigt, dass Theater lernen muss, auf sein Publikum hinzuzugehen? 

Ganz genau. Theater muss sich bewegen. Wenn wir ganz ehrlich sind haben wir doch das Problem, dass Theater für eine „elitäre Randgruppe“ eine Rolle spielt. Statistisch gesehen gehen nur 10% der Bevölkerung ins Theater. Kinder-und Jugendtheater kommt da noch ein bisschen besser weg, weil Familien und Schulen unsere Angebote nutzen. Dennoch sind wir für 80, 90% Prozent der Gesellschaft nicht relevant. 

Ich glaube aber nicht, dass wir uns in Frage stellen müssen. Es kommt oft die Kritik, ob Streaming zur Theaterform der Zukunft gemacht werden soll. Das kann ich nur verneinen. Es ist eine Ergänzung; eine notwendige Ergänzung, damit wir lebendig bleiben. Wir müssen aufpassen nicht den Kontakt zu Kinder und Jugendlichen, deren Sicht-und Spielverhalten sich komplett verändert haben in den letzten zehn Jahren, zu verlieren. In diesem Sinne sind wir eigentlich schon sehr spät dran. Dieses Stream-Projekt ist in dieser Hinsicht nur eine Krücke oder ein Hilfsmittel, um die Vielseitigkeit zu zeigen. Der Vorteil ist natürlich, diese geografische Reise: Ich sitze in Ulm und kann mir dennoch ein Stück aus Freiburg ansehen. Wie großartig ist das denn! Aber es muss sich darüber hinaus noch viel mehr bewegen. 

Sie zeigen viele zeitgenössische Autorenstücke.
Wie sind Sie dafür die rechtlichen Fragen, zum Beispiel die der Autorenrechte, angegangen? 

Die Plattform sieht einfach aus, aber sie so auf die Beine zu stellen war sehr viel Arbeit. Viele Verlage waren anfangs von der Idee ganz und gar nicht begeistert. Da eine Firma wie InterMedia Solutions zu finden, die ein geschlossenes und bezahltes System erstellt und uns zahlreiche technische Mittel bieten kann, war ein Glücksfall. 

Denn die Verlage sagten zu recht: „Wenn wir das auf Youtube streamen, bezahlt man eventuell 250€ pro Tag, aber dann ist das Video weg und wird sogar noch kopiert…“. Das ist natürlich für die Autorenschaft eine Katastrophe und kann nicht die Lösung sein. 

Alle Autoren und Freelancer werden noch über Jahre unter den Folgen dieser Pandemie zu leiden haben, denn es wird vermutlich sehr lange keine neuen Aufträge geben. Wir haben alle auf Halde produziert; die kommenden zwei Jahre werden wirklich sehr schwierig für alle, die es gewohnt sind, Regime und Autorenaufträge zu bekommen. 

Von daher ist diese Plattform eine rechtlich wichtige Sache.

Inhaltlich bieten Sie klassisches Theater und zeitgenössische Autorenstücke. Lassen sich schon die ersten Favoriten der ZuschauerInnen erkennen?  

Diese Plattform ist toll, weil sie ganz viel Vielfalt zeigt und für Familien so eine Art „Symbol für Kultur“ sein kann. Allerdings gehören viele Autorenstücke leider nicht zu den „Stream-Rennern“. Bisher ist das Publikum noch nicht so mutig, wie ich es mir gerne wünschen würde. Der Klassiker Faust läuft hingegen wirklich sehr gut, was auch daran liegt, dass das Werk in Baden-Württemberg Abiturthema ist. Über Weihnachten hatte es das Theater Heidelberg geschafft Ox und Esel, eine nette Persiflage auf die biblische Geschichte, online zu stellen und das ist auch sehr gut gelaufen. Alles andere hat es leider noch schwer auf dieser Plattform. 

„Faust“ I Markus Hummel

Was zu der Frage führt, wieso zeitgenössisches Theater so wenig oder gar nicht im Lehrplan vertreten ist. 

Das ist ein Punkt, den ich sehr kritisch betrachte. Wieso fehlt es an neuen Autorenstücken im Lehrplan? 

Wir haben zum Beispiel Goldzombies von Marisa Wendt produziert. Das ist ein so intelligentes Stück! Es geht dabei um eine Youtube-Vloggerin, die Schminktipps online stellt, aber dafür Fett nimmt. Es stellt sich heraus, dass sie sich inmitten eines Bürgerkriegs befindet. Auf einmal erleben wir, wie wir in eine Situation hereingezogen werden, die wir gar nicht haben wollen. Am Ende des Stücks verliert sie ihre beste Freundin und sagt „Es gibt nichts mehr zu schminken.“. Was für eine intelligente Sichtweise, ein Medium zu benutzen, das die Jugendlichen kennen und es zu adaptieren. So etwas wird leider nicht zum Abiturthema gemacht. 

Was zu der Frage des Bildungsauftrags von Kinder-und Jugendtheater führt…

Vielen PädagogInnen war es sicherlich bisher hilfreich, Stücke wie Faust oder Michael Kohlhaas durch einen Theaterbesuch „mundgerechter“ zu präsentieren. Jetzt haben wir aber eine Krisensituation und müssen versuchen, so langsam wieder in den Alltag zurückzukommen. Und es stellt sich die Frage: „War der Theaterbesuch vormals nur eine Ablenkung oder hat er tatsächlich einen effektiven Auftrag, weil Werke oder Themen lebendiger und sichtbarer dargestellt werden können?“. Wir werden jetzt wirklich sehen, wer gleich zurückkommt und wer noch eine Weile braucht. Wird es ein „Normal“ wieder geben? Brauchen wir dieses „Normal“? Ich bin wirklich sehr gespannt auf die kommenden Monate und glaube dennoch, dass wir mit den digitalen Projekten weitermachen sollten. Klassisches Theater und Digitalität müssen sich parallel weiterentwickeln. 

Theaterstream I Markus Hummel

Bisher richtet sich Ihre Plattform hauptsächlich an Schulen.
Gibt es den Wunsch, sich hier zu öffnen? 

Diese Entscheidung lag weniger bei uns und hing mehr mit den Autorenrechten und dem Abrechnungssystem zusammen. Wir haben 13 beteiligte Theater aus unterschiedlichsten Strukturen (von Dreispartenhäusern bis zur freischaffenden Szene); von Autorentheater bis zu Klassikern haben wir es geschafft, eine Plattform zu kreieren. Wir haben es geschafft, einen Einheitspreis festzulegen. Dann aber kam die Auseinandersetzung mit den Verlagen, die zwar ihre Zustimmung gaben, aber nur zu einem Stream-Programm im geschlossenen Rahmen.  

Jedes Mal, wenn eine Klasse einen Stream aufruft, wird da eine mobile Pauschale berechnet. Wie aber mit den einzelnen Tickets umgegangen wird und wie diese berechnet werden sollen, kommt als nächster Schritt demnächst auf uns zu. Momentan beschäftigen wir uns wirklich mit der Frage, wohin es mit der Plattform gehen soll. 

Ich möchte, dass sich die Seite öffnet und nicht nur den Schulen als geschlossenes System zur Verfügung steht. Das fordert natürlich einen Einheitschor von unserer Seite aus bei den Gesprächen mit den Verlagen. Ich glaube aber, dass die weiteren Lockerungen erst kommen, wenn alle verstehen, dass wir die richtigen ZuschauerInnen erst Ende 2021 / Anfang 2022 wieder haben werden. 

Also, eine Plattform bis 2021. Und danach? 

Ich glaube, dass es die Plattform nach dem Ende der Pandemie geben wird. Ich stelle mir vor, dass wir dieses Projekt weiter erforschen, vielleicht gemeinsam unter uns Theatern Stücke an verschiedenen Orten und gleichzeitig spielen, so wie es Kay Voges am Dortmunder Theater vorgemacht hat. In Dortmund gibt es auch die Akademie für Digitalität und Theater. All das müssen wir integrieren, ergründen und uns fragen, wie all dies noch an Bedeutung gewinnen kann. 

Momentan ist unsere Plattform eine Hilfe, aber ich wünsche mir sehr, dass sie zu einer lebendigen Seite wird, die Versuche zulässt. Meine Perspektive geht wirklich noch weiter und beschäftigt sich mit Gamification, der Auseinandersetzung mit Texten, dem Erzählen von Geschichten, Interaktion, etc. 

Foto: Dreh „Odysseus“ I Markus Hummel

Glauben Sie, dass es einfach sein wird, das Publikum wieder zurück in die Theatersäle zu holen?

Im Kinder-und Jugendtheater haben wir unsere Hilfen: die Lehrerinnen und Lehrer. Diese bringen uns unser Publikum, manchmal freiwillig bis fast freiwillig, ins Theater. Diesen Stress haben wir also nicht so. Wir müssen jetzt aber abwarten, bis die Lehrerschaft endlich wieder Luft holen kann und bereit ist, wieder hinauszugehen. 

Die Frage „Was ist uns Kinder-und Jugendtheater eigentlich wert?“ finde ich allerdings gut. Brauchen wir es oder brauchen wir es nicht? In Ulm haben wir 120.000 Einwohner und aufgrund der Pandemie gibt es im Einzelhandel gerade viel Wechsel. Ohne jetzt böse klingen zu wollen, aber vielleicht tut diese Neuorientierung gut. Wir leben in einer freien Demokratie und jeder darf sich hier verwirklichen, aber wir sollten uns schon mit der Frage auseinandersetzen, ob es nicht von manchem zu viel gibt. Was brauchen wir um die Gesellschaft zusammenzuhalten? Was brauchen wir als Ablenkung, Unterhaltung und als Auseinandersetzungsebene?  Das sind sehr viele Fragen, die sich da auftun und ich glaube, diesen kann sich das Kinder-und Jugendtheater eben nicht entziehen. 

Hier in Ulm haben wir Glück: Wir wurden 2020 noch komplett gefördert; wir werden auch in diesem Jahr nicht gekürzt. Wir haben ja de facto eine Kürzung. Die 40, 50% Verluste aufgrund fehlender Einnahmen sind für uns eine rapide Kürzung. Manche Städte und Kommunen gehen da aber noch weiter und senken das Budget ihrer Theater um 20%. Da sieht man, was Kultur in diesen Städten wert ist…  

Hat die Erstellung und Bereicherung einer solchen Plattform für eine engere Zusammenarbeit zwischen den Kinder-und Jugendtheatern Baden-Württembergs geführt? 

Wir haben bereits vor der Pandemie einen sehr guten Zusammenhalt gehabt. Wir organisieren abwechselnd mit Berlin das Festival Schöne Aussicht im Stuttgarter JES (Junges Ensemble Stuttgart). Unsere Arbeitstreffen und Gremien, in denen wir tagen, haben schon immer zum Austausch verholfen. Aber manchmal, und das ist meine persönliche Meinung, hat da leider der Freund Neid in Gesprächen über Programme oder Strategien mitgeklungen. 

Nun hat aber diese Arbeit an einer konkreten Idee auf jeden Fall dazu beigetragen, dass wir einen intensiveren Austausch haben. Wir werden uns weiterhin monatlich treffen, aber es scheint uns zukünftig sinnvoller über diverse Themen zu sprechen, wie zum Beispiel: Wollen wir uns für einen Welttag oder ein politisches Thema stark machen? Gibt es rechtliche Fragen zu klären?. 

Ja, es hat tatsächlich geholfen, unseren bereits guten Zusammenhalt zu verstärken. 

Markus Hummel

Foto: Sven Wisser

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