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Is It The Real Thing? Ein Gespräch mit Regisseur und Kurator Boris Nikitin

Noch bis Sonntag läuft das Basler Theater-Festival It’s The Real Thing. Boris Nikitin, der Initiator dieser Dokumentartage, hat sich mit seinen Arbeiten ganz dem Raum zwischen Inszenierung und Authentizität verschrieben. So lud der 36-jährige schon zu einer tatsächlichen Gerichtsverhandlung und inszenierte eine Predigt im Benediktinerkloster Mariastein. Wir haben mit ihm über die zweite Ausgabe seines Festivals und über das Dokumentarische im Theater gesprochen.

 

Herr Nikitin, Sie haben in Gießen angewandte Theaterwissenschaften studiert, wie auch andere bekannte Vertreter des Dokumentartheaters, zum Beispiel Rimini Protokoll. Kann man Gießen als eine Art Hochburg des Dokumentartheaters bezeichnen?
Vor allem würde man das Institut für angewandte Theaterwissenschaften als eine Hochburg des postdramatischen Theaters bezeichnen. Normalerweise machen die Regie-Studenten zusammen mit den Schauspiel-Studenten Theater. Doch in Gießen gibt es keine separate Schauspielausbildung. Dementsprechend musste man sich überlegen: Wie macht man Theater ohne Schauspieler, ohne dass es gleich zu Laientheater wird? Aus dieser Frage heraus sind die neuen Theaterformen entstanden, unter anderem auch das dokumentarische Theater.

 

Ihr Studium hat Sie also zum Dokumentartheater geführt?
Ja, bestimmt. Es wird allerdings fälschlicherweise angenommen, dass ich ein Repräsentant des dokumentarischen Theaters bin. Doch meine Sicht auf das Dokumentarische ist sehr kritisch. Deswegen habe ich angefangen, mich damit zu beschäftigen. Aber meine Stücke drehen sich viel eher um die Illusion.

 


Die Chor-Arbeit Magnificat von Marta Górnicka.

 

Ihre Arbeiten regen durch ihr ständiges Schwanken zwischen Fiktion und Realität automatisch zum Nachdenken und zu kritischer Reflexion an. Ist das Ihre Intention?
Das Dokumentarische tritt oftmals in die Falle, dass es wie ein Mediendiskurs reproduziert wird. Ich finde aber wichtig, aufzuweisen, – was Zeitungen und anderen Medien ja nicht ständig möglich ist – dass es sich auch hier um eine Darstellung der Wirklichkeit handelt, nicht um die Wirklichkeit selbst. Diese Darstellung wurde von jemandem verfasst und bearbeitet, sie ist eine Interpretation, eine Konstruktion. Die Art und Weise, wie wir unsere Wirklichkeit über Öffentlichkeit bilden, entsteht in erster Linie über fremde Darstellungen, über Interpretationen. Was die Wirklichkeit eigentlich ist, ist nochmal eine ganz andere Frage. Mein Anliegen ist es, diesen Zwiespalt, diese Frage aufzuweisen und damit zu spielen.

 

Zu den Basler Dokumentartagen dieses Jahr: Wie sind Sie auf das Thema „Öffentlichkeit“ gekommen?
Das ist aus dem letzten Festival heraus entstanden. Dort habe ich plötzlich festgestellt, dass es in dem Dokumentarischen eine „Coming-Out-Struktur“ gibt. Im Theater ist das Dokumentarische meist damit verbunden, dass Leute auf der Bühne stehen und ihre eigenen biographischen Erfahrungen, ihren Körper zum Gegenstand machen. Es ist wie ein Coming-Out, Leute veröffentlichen sich vor einer Gemeinschaft. Insofern ist es eine Form von Öffentlichkeitsarbeit für eine bestimmte Agenda. Das kann zum Beispiel eine feministische oder eine Queer-Agenda sein. Wie wird Öffentlichkeit gebildet? Über das Erzählen von Wirklichkeit, über das Sprechen, über das Darstellen. Das bedeutet, jeder kann seine eigene Stimme – um es auf kitschige Weise zu sagen – einbringen.

 

Ist dies auch der Grund dafür, dass Magnificat das Festival eröffnet?
Genau. Der Chor repräsentiert im Theater ja schon seit der Antike die Öffentlichkeit. Diese Chorarbeit – unter doch auch vielen Chorarbeiten, die in letzter Zeit in verschiedenen Theatern stattgefunden haben – ist eine, die nicht zuletzt durch den feministischen Blick herausragt. Das fand ich interessant.

 

Können Sie uns ein Lieblingswerk der diesjährigen Dokumentartage nennen?
Ich finde das Konzept des Museums of Broken Relationships toll. Ich bin aber auch ein großer Fan von Rabih Mroué. Als ich die Samuel Koch Geschichte letzten Sommer, während ich in der Jury des Theatertreffens der deutschsprachigen Theaterschulen saß, gesehen habe war ich begeistert von diesen zwei jungen Schauspielern, von denen der eine im Rollstuhl sitzt. Ich kann jedoch nicht sagen, dass ich einen Liebling habe. Die Arbeiten stechen auf unterschiedliche Arten hervor und haben auf unterschiedliche Art und Weise eine Prägnanz.

 


Ein als Wurfgeschoss missbrauchter Gartenzwerg aus der Sammlung des Museums of Broken Relationships.

 


Der querschnittsgelähmte Samuel Koch zusammen mit Robert Lang in Ein Bericht für die Akademie.

 

Ist das Festival in Zukunft im Zwei-Jahres-Takt geplant? Haben Sie sich schon Gedanken über das weitere Vorgehen gemacht?
Nein, ist es nicht. Es war bei der ersten Ausgabe so, dass ich während des Festivals, bemerkt habe, wie sehr es mit der Öffentlichkeitsbildung zusammenhängt. So hat sich erst die neue Fragestellung ergeben. Es kommt auf das diesjährige Festival an, ob sich nochmal eine interessante Fragestellung ergibt. Ansonsten würde ich keine weitere Ausgabe auf die Beine stellen wollen. Es macht nur Sinn, wenn man mit Prägnanz und Wucht reingehen kann. Es einfach nur zu institutionalisieren, um ein weiteres Festival zu haben, das im Takt läuft, wäre schade.

Das Interview führte Sarah Obertreis.

Unsere Ankündigung der Basler Dokumentartage 2015

 Der Artikel über Magnificat von Marta Górnicka

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