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In den Lüften mit…

Das Festival cirqu’Aarau geht in seine dritte Runde. Internationale und regionale Künstler machen sich auf, uns mit Erstaunen und Glücksgefühlen zu füllen. Doch, bevor es uns vollkommen die Sprache verschlägt, unterhalten wir uns mit Roman Müller, künstlerischer Leiter, und Laura Olgiati, Produktionsleiterin, über das Festival und den Zirkus von heute. 

Lieber Roman, liebe Laura,

Das Festival XS, Extradanse, Perspectives – der Zirkus hat sich in so manchem Festival und Theaterprogramm festgesetzt. Das Festival cirqu’Aarau beginnt nun in wenigen Wochen und startet seine dritte Ausgabe. Drücken wir einmal auf die Rückspultaste und gehen zum Anfang. Wie ist die Idee zum Festival entstanden?

RM Die Idee entstand im Raum selber, sozusagen durch den Raum. Die unglaubliche Atmosphäre und die Dimensionen der Alte Reithalle mitten in der Stadt Aarau „schrien“ nach einem Festival. 2013, im Rahmen der Sommersaison, hatte ich ein Gastspiel mit der Produktion ArbeiT und durfte so eine Woche an diesem Ort verweilen. Eigentlich war es Liebe auf den ersten Blick, es formten sich automatisch Bilder eines großen Festivals an diesem fantastischen Ort. Für mich war das erstaunlich, normalerweise denke ich nicht in dieser Größe und vor allem habe ich vorher nie daran gedacht ein Festival aufzubauen. Es war also tatsächlich dieser Ort, der mir die Idee zugeworfen hat.

LO Zu dieser Zeit studierte ich in London Kulturmanagement, und entschied – damals noch im Unwissen über diese Idee – meine Masterarbeit über zeitgenössischen Zirkus in der Schweiz zu schreiben. Zu diesem Anlass kontaktierte ich Roman – ein doch sehr erfolgreicher Schweizer Artist – mit ein paar Fragen zur Schweizer Zirkusszene. Seine Antwort kam umgehend: „Super, dass du dieses Gebiet erforscht – hier meine Antworten zu deinen Fragen. Gegenfrage: Willst du beim Festival mitmachen?“ Für mich war das eine Einladung genau das zu machen, von dem ich schon seit langem träumte: einen Ort für zeitgenössischen Zirkus in der Schweiz zu schaffen.

Wie kreiert ihr das Festival und in welchem Zeitrahmen?

 RM Die Vorarbeit wurde von Peter Kelting geleistet, dem künstlerischen Leiter des Theaters Tuchlaube Aarau und in dieser Rolle auch für die alljährliche Sommersaison in der Alten Reithalle zuständig. Bereits 2012 lud er eine erste Zirkusproduktion (Mädchen/Mädchen, Cie Roikkuva) ein, was im deutschsprachigem Raum in der Schweiz nicht in die Theaterlandschaft passte, so aber mit den folgenden Gastspielen von ArbeiT und Le Cercle (2013 und 2014) das Terrain ebnete und die Neugier des Aarauer Publikums auf diese Sparte weckte. 2015 wechselte es zur Form eines Festivals und wir luden internationale Gruppen ein, die hier komplett unbekannt waren. Das Aarauer Publikum zeigte sich neugierig und ließ sich durch ihnen Unbekanntes nicht abschrecken, die Leute kamen und liebten es! Somit war für mich klar, dass die Vision eines großen Festivals keine Utopie ist. Und nun ist es soweit. Das Festival ist sehr international ausgerichtet, aber der Einbezug lokaler Institutionen oder Kollaborationen auf künstlerischer Ebene ist mir sehr wichtig. Im letzten Jahr arbeiteten die britischen Gandini Juggling mit der Argovia Philharmonic zusammen, in diesem Jahr die französischen Circa Tsuica mit der Stadtmusik Aarau

LO Sagen wir’s mal so: wir werden langsam ‚professioneller’. Für die ersten beiden Ausgaben – die doch vom Programm her noch sehr viel kleiner waren – war es eine ziemliche Jonglage-Übung. Roman trat weiter auf europäischen Bühnen auf, Madlaina (Marketing & Geschäftsleitung) arbeitete 100% bei einer anderen Firma, ich lebte in London und arbeitete ebenfalls 80% bei Crying Out Loud (einem führenden Produktionsbüro im Bereich Zirkus). Die Festivalorganisation war sozusagen ein intensives Hobby nebenbei. Die diesjährige Ausgabe präsentiert sich auf allen Ebenen viel größer: dreimal mehr KünstlerInnen, doppelte Zuschauerkapazität, ein intensives Rahmenprogramm. Roman stand in diesem Jahr nicht mehr oft auf der Bühne, Madlaina ist Mami geworden und nebenbei nur noch für cirqu’Aarau aktiv, und auch ich habe mein Londoner Leben aufgegeben und bin fürs Festival zurück in die Schweiz gekommen. Eine Ausgabe dieser Größe können wir auch nicht jedes Jahr stemmen – daher die Entscheidung, ab diesem Jahr in einen Zwei- Jahresrhythmus zu wechseln. Die nächste Ausgabe ist für 2019 geplant.

Was macht eurer Ansicht nach eine gute Zirkus-Kreation aus?

RM Diese Frage ist in Kürze nicht zu beantworten ohne Gebrauch von platten Phrasen. Eigenständigkeit gehört für mich dazu, Persönlichkeit, ein relevanter Inhalt und konsistente künstlerische Umsetzung. Technische Leistung im zirzensischen Sinne ist für mich nicht von Bedeutung, jedenfalls nicht die in der vorgeführten Form.

LO Ich habe schon viele sehr gute Zirkuskreationen gesehen, und es ist schwierig zu sagen, was die alle gemeinsam hatten. Aber hier mal ein Definitionsversuch:

Wie hektisch geht es tatsächlich hinter den Kulissen des Festivals zu?

LO Wir sind seit dem Anfang ein ganz kleines Kernteam von drei Leuten – Roman, Madlaina und ich. Zu dritt stemmen wir eigentlich den größten Teil der Aufgaben: Mittelbeschaffung, Programmation, Produktion, Kommunikation, Buchhaltung/ Geschäftsführung, Ticketing. Da kann es natürlich ab und zu hektisch zugehen. Aber dank dieser Überschaubarkeit des Teams können wir auch sehr effizient auf Anfragen / Komplikationen / Unerwartetes reagieren – der administrative Weg ist bei uns äußerst kurz. Seit dem Beginn des Festivals arbeiten wir zudem eng mit dem Theater Tuchlaube zusammen. Vor allem im Bereich der technischen Planung und Durchführung und der Infrastruktur vor Ort können wir auf ihr Wissen zurückgreifen. Das entlastet uns sehr.

RM Bis jetzt eigentlich gemütlich! Vielleicht auch weil ich meinem Team einfach vertrauen kann und nicht überall dreinreden muss. Im letzten Jahr war es ein bisschen hektischer, zwei Wochen vor Beginn des Festivals ist eine Produktion ausgefallen und ein vernünftiger Ersatz war nicht zu finden. So bin ich mit einer Produktion selber eingesprungen, die wir drei Jahre nicht mehr gespielt haben (Hyrrä, Momentlabor). Zusätzlich waren nicht alle Beteiligen frei, aber in der Not können drei Tage Proben sehr effektiv sein.

Gibt es eine Kompanie, auf die ihr euch besonders freut?

LO Auch für mich ist das Festival eine Entdeckungsreise – ich habe noch nicht alle Stücke gesehen, die auf dem Programm stehen. Ich freue mich deshalb hauptsächlich auf diesen Cocktail an verschiedensten Formaten, Ästhetiken, Ideen und Kreationen – und auf die Menschen, die dahinterstecken.

RM Ich möchte keine Produktion aufs Podest heben, ich freue mich auf ein Wiedersehen von allen.

Wen würdet ihr gerne einmal zu eurem Festival einladen?

LO Die Compagnie XY – ihr Stück Il n’est pas encore minuit ist für mich ein fast unantastbares Zirkuskunstwerk. Das Stück in dieser räumlichen Rauheit der Alten Reithalle zu zeigen, wäre grandios.

RM Le vide, essai de cirque von Fragan Ghelker! Leider ist es bis jetzt noch nicht möglich, weil wir noch keine Hängepunkte am Dachstuhl der Alten Reithalle anbringen dürfen. Aber das Stück in dieser Halle wäre für mich ein Traum. Das schließt auch an der vorigen Frage an, was für uns eine gute Zirkus-Kreation sei. Le Vide in seiner Form ist nur mit der benutzten Zirkustechnik zu erzählen und es ist diese, in Zusammenspiel mit der Dramaturgie der Inszenierung, die zu einer eigenen Form von Theater wird. An diesem Punkt wird Zirkus für mich interessant und zu einer eigenen Sprache. Le Vide ist für mich ein Meilenstein.

Euer Lieblingsmoment während des Festivals?

LO Wenn die ersten Zirkus-Lastwagen auf den Straßen Aaraus erscheinen – dann schlägt das Herz höher, es ist der Anfang einer intensiven, aber auch schon lange herbeigesehnten Festivalzeit. Ab dem Moment weiß man: jetzt geht’s los, alle Vorbereitungen werden auf die Probe gestellt – wird alles so funktionieren wie geplant? Ich finde das immer wahnsinnig aufregend, aber auch erfüllend. Ab dann erlebt man endlich das Festival, auf das man schon seit langem ‚auf Papier’ hingearbeitet hat.

RM Wenn ich auf einer gewissen Bank gleich neben der Bar im Stall, vis-à-vis von der Reithalle, sitzen und dem Festivalgeschehen zuschauen kann.

Wie würdet ihr die diesjährige Festivalausgabe einem Zuschauer schmackhaft machen, der zum ersten Mal daran teilnimmt?

LO Wir präsentieren ein Programm von einer großen ästhetischen und inhaltlichen Bandbreite: es gibt eigentlich wirklich für alle was zu sehen. Mit dem Cirque Aïtal haben wir eine Compagnie zu Gast, die mit ihrer persönlichen, herzlichen Geschichte und ihrer hochstehenden Artistik Groß und Klein begeistern kann. Das andere Ende des Spektrums bilden Alexander Vantournhout (ANECKXANDER) oder Iona Kewney (Black Regent), beides Circus Next Lauréats, die mit einer radikaleren Form von Performance eher Kulturbegeisterte, konzeptuell interessierte Zuschauersegmente ansprechen werden. Wir laden aber natürlich alle unsere Zuschauer ein, sich auf das angebotene Programm einzulassen – zu riskieren, auch einmal was anzuschauen, das auf dem Papier überhaupt nicht nach Zirkus im traditionellen Sinne tönt. Denn das ist ja das Ziel des Festivals: unserem Publikum diese äußerst vielfältige Kunstform näher zu bringen.

Sprechen wir noch ein wenig über die Zirkuskunst im Allgemeinen. Könnt ihr euch noch an euren ersten Zirkusbesuch erinnern?

LO Ich war als Kind und Jugendliche eine äußerst begeisterte Zirkusbesucherin. Alles begann mit Familienferien im Ferienwagen des Circus Monti. In einem alten Holzwagen konnte man dort als Familie für eine Woche den Zirkusbetrieb hautnah miterleben – alle Vorstellungen besuchen, sich während der Vorstellung hinter den Kulissen aufhalten, Sägemehl rechen, mit dem Traktor mitfahren. Ich fand das als 5-Jährige grandios, wurde gepackt vom Zirkusvirus und quengelte so lange, bis meine Eltern mich nach den Ferien in einen Akrobatikkurs einschrieben. Bis 18 habe ich dann regelmäßig Akrobatik und Seiltanz in verschiedenen Jugendzirkusschulen trainiert und dank innovativen Trainern dessen zeitgenössische Form entdeckt.

RM Das war im Circus Monti, er gastierte damals genau vor unserer Haustür. Ein Zirkusfan war ich in meiner Kindheit allerdings nie. Erst die Berührung mit den neuen Formen ließ meine Neugier für den Zirkus entflammen. Auslöser war Le cri du caméléon von Joseph Nadj, ein Stück, das mir eine neue Welt eröffnete, die mich nun seit mehr als 20 Jahren verfolgt.

Auf der Festivalseite sprecht ihr von zeitgenössischem Zirkus. Könnt ihr uns diesen Begriff näher erklären?

LO Das Wort ‚zeitgenössisch’ finde ich eigentlich problematisch: ab wann ist etwas zeitgenössisch? Aus diesem Grund haben wir uns auch in der Namensgebung des Festivals für den Term ‚aktuelle’ und nicht ‚zeitgenössische’ Zirkuskunst entschieden. Am Festival wollen wir Kreationen von heute zeigen – egal ob sie zeitgenössisch sind oder nicht. Der französische Begriff ‚cirque contemporain’ wird heute jedoch auch in der Schweiz immer mehr als Genrebezeichnung gebraucht. Er bezeichnet Produktionen, die von / mit ausgebildeten Artisten kreiert werden, sich oft sehr interdisziplinär präsentieren, meist wortlos eine Geschichte erzählen.

RM Lass es mich mit den Worten von Thomas Oberender (Intendant der Berliner Festspiele) aus seinem Essay Warum Zirkus? (erschienen in Theater der Zeit) sagen: „Die Entwicklung des zeitgenössischen Circus ist eine Reaktion auf die Konventionen des eigenen Mediums und zugleich der Versuch, modernes Theater zu machen ohne „Theater“. Es handelt sich um eine bewusste Entscheidung für eine andersartige Erzählweise, die nicht textbasiert ist, kollektiv und interdisziplinär produziert wird und eine Form von Realität kreiert, die nicht dem Gebot der Repräsentation gehorcht, sondern der Andersartigkeit, des Magischen und Riskanten.“

 Wie würdet ihr die Schweizer Zirkusszene definieren? Was macht sie aus?

LO In den letzten Jahren ist sehr viel Bewegung in die Schweizer Szene gekommen: überall sprießen kleine, aber feine Zirkusprojekte – Station Zirkus in Basel, das Zirkusquartier des Chnopf in Zürich, das Gadjo Festival in Winterthur oder unser Festival in Aarau. Der Berufsverband Pro Cirque, im 2014 gegründet, setzt sich aktiv und erfolgreich für die Anerkennung des Zirkus als kulturpolitische Sparte, gleichgesetzt mit Theater oder Tanz, ein. Immer mehr Schweizer Artisten scheinen sich auch wieder stärker für die Schweizer Szene zu interessieren. Ganz allgemein ist die Schweiz geprägt von einem traditionellen Zirkusbild: viele Familienzirkusse sind noch jährlich im Land unterwegs. Diese Tradition ist für die aktuelle Schweizer Zirkusszene positiv und negativ zugleich: positiv, weil man an diese Tradition ansetzen kann: der Begriff ‚Zirkus’ bedeutet allen was. Negativ, weil der Begriff automatisch traditionelle Assoziationen hervorruft. Die Herausforderung ist, unserem Publikum aufzuzeigen, dass Zirkus sehr viel mehr sein kann, als was die traditionellen Zirkusse in ihren Programmen zeigen.

RM Sie ist im Aufbruch und gedeiht. Dass dies erst jetzt der Fall ist, ist eigentlich erstaunlich. Schweizer wie Ueli Hirzel (Produzent von Produktionen wie QueCirqQue oder Cirque O) und Ueli Bichsel mit dem Zirkus Federlos waren in den 80ern Wegbereiter für den neuen Zirkus. Gruppen wie Zimmermann & de Perrot, Daniele Finzi Pasca oder David Dimitri sind auf der ganzen Welt auf Tournee, und trotzdem hat der zeitgenössische Zirkus bei Theaterdirektoren und Institutionen einen schweren Stand. Aber der Stein kommt ins Rollen und eine neue Generation wächst heran, sucht sich seine Nischen und Freiräume, produziert, experimentiert…. Ich hoffe sehr, dass wir mit dem Festival unseren Beitrag zur Anerkennung des Zirkus in der Schweiz beitragen können und der neuen Generation Steine aus dem Weg räumen können.

Und, mal Hand aufs Herz, geht es nach dieser Festivalausgabe in einen wohlverdienten Urlaub oder schon auf die Suche nach neuen Talenten für 2019?

LO Hand aufs Herz: eine Liste mit Stücken fürs 2019 gibt’s jetzt schon. Auch müssen wir schon sehr bald mit Finanzierungsanfragen für die nächste Ausgabe beginnen. Aber das schließt ja Ferien nicht aus!

RM Hmm, gleich nach dem Festival geht es mit der neuen Inszenierung von Tr’espace (Müller/Müller) weiter mit einer Residenz im Dommelhof in Belgien. Aber grundsätzlich schaue ich sehr darauf nicht zu viel Verschiedenes zu tun, fokussiert zu bleiben und einfach auch Zeit zu haben.

Vielen Dank für dieses Gespräch! Wir wünschen euch alles Gute für diese Festivalausgabe. Verdrehte Arme, glückliche Gesichter, tobende Applauswellen und viele einzigartige Augenblicke!

 

Interview geführt von Jenny Lippmann

szeniks Artikel zum diesjährigen Festivalprogramm

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