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Ein künstlerischer Espresso

Alexandre Caputo ist als künstlerischer Berater im Brüsseler Théâtre National tätig. 2010 kreiert er das Festival XS – ein vielfältiges Festival, welches kurzförmige Spektakel vorstellt. Heute spricht er mit uns über die Anfänge und Absichten des Festivals, sowie die teilnehmenden Künstler. Es ist noch sehr ruhig an diesem Nachmittag im Theater. Die kreativen Köpfe ruhen sich aus, bereiten sich vor, schlürfen einen Kaffee. Im ersten Stockwerk läuft Musik von Abba und ein paar Elektronoten. Es die Ruhe vor dem spektakulären Sturm des Festivals, welches 22 Veranstaltungen beinhaltet…  Hier wird die Kunst wie Kaffee dosiert. Sind Sie knackiger Kaffee oder eher große Tasse? Was auch immer Ihr Herz begehrt, in diesem Programm werden Sie fündig und kommen den ganzen Abend lang auf Ihre Kosten. In den Pausen feiern die Zuschauer; die letzten freien Plätze werden wie bei einer Tombola versteigert: Wer will, wer will, wer hat noch nicht…? Ein Paradies für die darstellende Kunst!

Hallo Alexandre! Danke, dass du uns empfängst! Tauchen wir gleich ins Meer der Fragen ein: Wie ist dieses Festival entstanden?

Das Festival ist vor ungefähr sieben Jahren aus dem Wunsch heraus, einen Ort der Freiheit und des Experimentierens zu schaffen, entstanden. Ein Spektakel zu kreieren benötigt Zeit, viel Energie und finanzielle Mittel. Noch vor den ersten Proben muss man eine Produktion auf die Beine stellen, das heißt ein Team gründen, Partner, Koproduzenten, finanzielle Mittel finden. Oftmals gilt es, die zukünftigen Arbeitsschritte zu verteidigen, bevor die Kreation überhaupt beginnen kann. Im Allgemeinen nimmt dieser Prozess mindestens zwei Jahre ein. Ich denke, es ist sehr gut, dass sich manche Dinge langsam entwickeln, doch, wenn es um den Wunsch des Kreierens geht, dann sollte es möglich sein, schneller handeln zu können. Dass Kreationen im Rausche des Gefühls das Tageslicht erblicken können. So eine Form gibt es im Kino mit dem Kurzfilm oder in der Literatur mit den Erzählungen, im Theater jedoch, und das aus wirtschaftlichen Gründen, ist dies ein sehr unterentwickelter Bereich. Obwohl eine kurze Kreation an Zeit und Mitteln spart. Ihre Konsequenzen sind zudem weniger weitreichend als bei einer ausgewachsenen Kreation. Aus all dem ergibt sich ein Ort des Tests, des Experimentierens vielerlei Dinge. Das war ein Aspekt.

 Und der andere Aspekt?

Der andere Aspekt bezieht sich auf das Publikum. Ich träumte von einem Festival mit einer Überfülle an Künstlern, jungen, frisch aus den Schulen kommenden Künstlern, sowie älteren Künstlern mit 30 Jahren Erfahrung auf den Schultern. In meiner Vorstellung sollten sie alle zusammen, in demselben Rahmen, unter denselben Bedingungen und in den unterschiedlichen Formen – Theater, Zirkus, Tanz – kreieren. Die Idee war es dem Zuschauer ebenfalls die Möglichkeit zu geben, seine Gewohnheiten zu verlassen und neues zu entdecken. Jede Vorstellung dauert zwischen 5 bis 25 Minuten. Also kann sich ein Zuschauer sagen: „Ok, Zirkus interessiert mich normalerweise nicht so sehr, aber da es nur 20 Minuten dauert – versuch es!“. Und somit tritt er leichter über die Schwelle der ihm unbekannten Form. So ist das Festival entstanden: mit dem Wunsch zur Öffnung, des Treffens, einer Mischung aus Kreation und des Feierns. Denn, dieses Festival hat etwas von einem Rockfestival.

 Warum hier in Brüssel?

Ganz einfach gesagt, weil ich hier lebe. Es ist meine Stadt; hier bin ich geboren. Diese Stadt ist im Allgemeinen eher ruhig, bürgerlich. Doch sie ist dabei sich zu ändern und ist ein wahres Becken der Kreation, der Feier geworden. Es ist eine verschiedenartige Stadt; sie lässt sich nicht katalogisieren. Nimm zum Beispiel die NVA (belgische Partei), sie versteht Brüssel nicht und könnte sich hier nie wiederfinden, da sie nicht homogen ist. Und wenn es etwas gibt gegen das XS kämpft, dann ist es Homogenität; das interessiert mich überhaupt nicht in der Kunst.

 Ist Ihr Publikum heterogen?

Auf jeden Fall. Zum einen durch die Künstler, junge, ältere Menschen, Familien, Studenten – es ist bunt gemischt! Doch, und das können wir nicht leugnen, gehört unser Publikum zur höheren Hochschulreife. Es gibt Zuschauer an die wir, trotz Bemühungen, nur schwer herankommen. Daher sind die Veranstaltungen auf dem Place de la Bourse auch so wichtig für das Theater, denn sie ermöglichen es uns, auf das unbekannte Publikum zuzugehen und jenen, die nicht den Schritt ins Theater machen, weil sie sich nicht eingeladen fühlen oder glauben, wir würden uns nicht an sie richten, zu sagen: „Doch, ihr interessiert uns: wir arbeiten für euch, deswegen sind wir hier, schaut nur her!“. Dies ist uns unglaublich wichtig!

 Es ist eine sehr gute Idee, Veranstaltungen auf dem Place de la Bourse zu präsentieren, so sind sie für jeden zugänglich. Personen, die vorbeigehen, werden eingeschlossen und können einen Blick darauf werfen.

Und es muss nicht reserviert werden. Dieses Prinzip gilt auch für das Festival. Nur 50% aller Plätze werden im Vorverkauf angeboten. Wir möchten nicht, dass sich alles durch den Vorverkauf bis zum letzten Platz füllt. Das Festival soll für jeden zugänglich sein, und das auch noch bis zur letzten Minute.

 Wie hat sich das Festival in den sieben Jahren entwickelt?

 Gut (lacht). Es ist schon zu einem festen Termin für eine ganze Reihe von Personen geworden. Für die Künstler, um Projekte entstehen zu sehen. Es gibt viele Künstler, die sich einen solchen Ort der Kreation wünschen. Das Festival hat sich auch durch internationale Beziehungen weiterentwickelt. Wir haben das europäische Projekt SOURCE mit Partnern aus, zum Beispiel, Budapest und Avignon, gegründet. Weil wir an lebhaften Themen des Festival Avignon angeknüpft haben. Wir arbeiten auch an der Kooperation mit anderen Partnern, aber es ist noch zu früh um darüber zu sprechen (schade!) … Mit der Erweiterung des Festivals in den öffentlichen Raum hat sich auch noch einmal viel bewegt.

 Wie wird das Festival vorbereitet? Welchen Herausforderungen müssen Sie sich stellen?

Es läuft alles nach Gefühl, aus dem Bauch heraus. Manchmal geht es sehr schnell; dann gibt es wieder stockende Momente, es gibt keine Regeln. Das Einzige, an dem ich wirklich festhalte, ist die Diversität. Das ist jedes Jahr das Schlüsselwort und ich versuche immer Veranstaltungen aus Theater, Tanz, Zirkus und Marionettenspiel zu präsentieren. Dass es junge und ältere Künstler gibt. Das ist wirklich der Grundstein. Ich arbeite mit Künstlern zusammen, die mir nahegehen, deren Arbeit ich schätze, die mit der gegenwärtigen Zeit agieren, die sich auf die Suche nach dem Publikum machen. XS ist ein pikantes, herausforderndes und populäres Festival. Der Schritt auf das Publikum zu ist grundlegend für mich. Wir üben eine eigentümliche Arbeit aus, da das Zusammentreffen bei uns im Hier und Jetzt stattfindet. Das ist nicht der Fall für Schriftsteller, Maler. Es gibt Maler, die haben erst nach ihrem Tod Ruhm erfahren. Eine Theaterkompanie kann so etwas kaum erleben.

 Das ist wahr.

 Also finden wir uns in einem Augenblick und mit der Schwierigkeit wieder, neue Sprachen, die die heutige Welt beschreiben, zu finden, denn die gestrige Sprache reicht nicht aus. Zudem müssen wir im selbigen Moment eine Verbindung zum Publikum haben. Und diese Spannung ist permanent vorhanden. Entweder geht man zu arg in die eine Richtung und hält sich an alles Klassische, das mich überhaupt nicht interessiert, dann schnurrt die Maschine zwar, doch man hat den Faden zur Gegenwart verloren. Oder man überlässt sich der Suche und geht zu weit, womit man ebenfalls den Gesprächsfaden mit einem großen Publikum verliert. Ich versuche sehr darauf zu achten. Diese Suche drückt sich in den 22 Veranstaltungen auf unterschiedliche Weise aus. Im Falle der Veranstaltungen auf dem Place de la Bourse, also im öffentlichen Raum, muss die Verbindung zu den Zuschauern schneller hergestellt werden. Da gibt es nicht die Vorbereitungszeit: keine Vorbereitungen im Saal, Licht aus, Konzentration an. Man ist vor Ort, man läuft, kommt auf dem Platz an und da muss alles schnell gehen. Die Art und Weise, wie wir ein Programm kreieren, unterscheidet sich auch von den unterschiedlichen Präsentationsweisen.

 Gibt es irgendwelche Besonderheiten in dieser Ausgabe?

Oh ja, die gibt es. Zum ersten Mal zeigen wir Veranstaltungen der Neuen Magie: Le corps (Der Körper) und Le Projet Fantôme (Projekt Geist) auf dem Place de la Bourse. Diese Form befreit sich von gewissen Vorschriften: Pailletten, Strass, lautstarke Effekte und stellt sich in den Dienst einer Geschichte, einer Begegnung mit dem Publikum, in der die Illusion, die Magie eine Unterstützung und nicht mehr das Endergebnis sind. Das ist eine Premiere; in Brüssel ist die Neue Magie selten zu sehen. Außerdem haben wir die Künstlerin MP5 eingeladen, die schon an vielen Mauern Europas und vor allem in Rom gearbeitet hat. Ihre Kreation ist im Foyer des Kleinen Saals und an den Außenwänden des Gebäudes zu sehen.

Was ist Ihr Lieblingsmoment während des Festivals?

Da gibt es eine Sache, die nebensächlich erscheint, mich aber tief berührt. Wir verlassen den künstlerischen Bereich, es ist 17 Uhr und die Kasse geht auf.

 Die Kasse?

Wenn das Publikum um 17 Uhr an der Kasse ansteht um Karten zu kaufen, fühlt man die Neugier, den Wunsch einen Platz zu bekommen bei einer ganzen Reihe von Personen. Da sag ich mir: „Aber was erzählt man uns nur? Warum macht man uns glauben, dass die Kultur niemanden interessiert…“. Diesen Durst nach Kultur zu sehen – das berührt mich. Ich finde das unglaublich. All diese Personen, die vermutlich Wohnungen und gemütliche Häuser haben, sich zuhause wohlfühlen… Diese Familien gehen vor die Tür, nehmen ihr Auto oder die öffentlichen Verkehrsmittel, kommen hier her und stehen an der Kasse für eine Veranstaltung an. Das ist wunderbar! Dieser Durst ist unglaublich!

 Eine Erinnerung, die Sie in den letzten sieben Jahren gezeichnet hat?

Da gibt es viele. Es ist schwer darauf zu antworten, denn es wäre nicht gerecht nur eine auszuwählen. Ich staune immer über die Leistungen der Künstler. Ich sehe mir alle Proben an und bin Zeuge vom Wachstum der Spektakel. Die gefühlten Emotionen sind dabei sehr stark. Und es ist auch unglaublich zu sehen, wie gut die Mundpropaganda in nur drei Tagen funktioniert. Es ist erstaunlich, wie schnell Begeisterungen für bestimmte Veranstaltungen entstehen.

 Haben Sie ein Stück, dass Sie in dieser Ausgabe begeistert?

Gewiss.

 Das behalten Sie für sich?

Oh ja. (Lacht)

 Was wünschen Sie dem Festival für die Zukunft?

Das wir es schaffen die Grenzen zwischen all den Kunstformen zu reduzieren.

Wir leben zum Teil in einer Zeit des identitären Rückzugs. Vor einem Jahr fand XS am 19. März statt. Am 22. März kam es zu den Attentaten. Ich nannte es: Brüssel gehört uns. Innerhalb eines Jahres wurden, im wahren Sinne des Wortes, Mauern errichtet. So ist es auch an uns, Menschen des Theaters, Brücken zu bauen, um zum Dialog einzuladen, auf andere hinzuzugehen. Wenn das Festival auch in Zukunft so ein Ort sein kann, ein Ort an dem Menschen auf etwas treffen, das sie vorher nicht kannten, an dem Zirkus, Tanz, Theater zu unterschiedlichen Mitteln werden auf die Welt zu schauen, dann wäre das wunderbar.

 

Bereits in diesem Festival können sie sich die Hand geben, aufeinandertreffen.

Vielen Dank Alexandre für das Gespräch und ein fabelhaftes Festival!

 

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