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Die Entzauberung der lunearen Seele: Gespräch zu „Neuro-Moon. Manage your memories“ im Theater Freiburg

Foto: Laura Nickel

Sara Glojnarić (Komponistin), Miriam Götz (Regisseurin), Robert Läßig (Video), Sarah Mittenbühler (Bühne & Kostüm), Friederike Scheunchen (Musikalische Leitung) und Heiko Voss (Dramaturg) im Gespräch über die Musiktheater-Uraufführung NEURO-MOON. MANAGE YOUR MEMORIES.

Heiko Voss : Mit dem Erinnern ist es so eine Sache: Einerseits erfreuen wir uns alle an schönen Erinnerungen, die wir keinesfalls missen möchten, und andererseits haben wir auch schreckliche Erinnerungen, die wir für immer loshaben wollen. Mit NEURO-MOON gibt es jetzt eine App, die die unliebsamen Erinnerungen umwandeln kann: Gib die störende Erinnerung einfach ins Textfeld ein, und die Künstliche Intelligenz der App generiert Dir in voller Kenntnis und vollem Zugriff auf Deine Persönlichkeit und Dein (Erinnerungs-)Leben eine neue Erinnerung ganz nach Deinem Geschmack – eine tolle Aussicht auf ein besseres, glücklicheres Leben, ein Paukenschlag in der Entwicklung der menschlichen Spezies. Und was für ein Start-Up: eine App mit Beichtstuhl-Funktion und bleibender Abgabe bzw. Auslagerung von quälenden Gedanken auf Giga-Servern fern unseres Erdendaseins mit automatischem Erinnerungs- Erlass bei neurologisch eingepflanzter Neuerfahrung. „NEURO-MOON ist aufgegangen“, singt Selina: „Die App ist der Hit.“ Und Fenja propagiert: „Vergessen ist ein Menschenrecht. Manage your memories. Für weniger Schmerz auf dieser Welt.“ NEURO-MOON verändert die Welt. Wer ist Selina, wer Fenja? Wer sind die Erfinder hinter der Application? Und wer sind die Menschen, die sie ansprechen?

Miriam Götz : Wir haben erstmal Selina und Tilman, ein junges, dynamisches Paar, Anfang dreißig. Sie haben ein paar Jahre Berufserfahrung hinter sich und tragen beide Erinnerungen mit sich herum, die ihre gegenwärtige Beziehung beeinflussen. Dies führt immer wieder zum Konflikt. Deshalb kommen sie auf die Idee, diese App zu programmieren, die alte Erinnerungen austauschen und mit neuem Erinnerungswert aufwiegen kann. Fenja ist die Schwester von Tilman, aber auch eine sehr enge Freundin von Selina und komplettiert unser Start-Up-Unternehmer-Dreieck.

HV : Eine große Frage im Verlauf des Stücks ist, was eigentlich mit den aussortierten Erinnerungen passiert. Wer meldet Ansprüche an, wer fühlt sich bemüßigt, Regeln aufzustellen oder einzureißen bzw. sie zu umgehen?

MG : Die erste Meldung kommt von MEMORY WATCH. Und dann meldet sich auch schon die Regierung, die sagt: Naja, so leicht können wir es uns mit dem Löschen nicht machen, man muss die Erinnerungen doch irgendwie verwahren. Auch die abgegebenen Beichten werden ja nicht gelöscht, sondern nur verschwiegen. Das hat natürlich mit dem Wunsch nach Kontrolle zu tun, aber auch mit einem gewissen Machtanspruch. Denn diese Institutionen bestimmen damit, was Kulturgut ist und gesichert werden muss. Und dann kommen Sumi und Aslan ins Spiel, die Global Player, die sich die App unter den Nagel reißen. Sie wollen ihren persönlichen Profit daraus ziehen.

Foto: Laura Nickel

HV : Damit sind wir mitten im Stück, das das Theater Freiburg gemeinsam mit dem Ensemble Recherche bei Dir, Sara, in Auftrag gegeben hat. Als Librettistin haben wir Emma Braslavsky ins Team geholt, deren Texte immer wieder um das Thema Künstliche Intelligenz und um Zukunftsvisionen kreisen. Allein die Lektüre ihres Romans DIE NACHT WAR BLEICH, DIE LICHTER BLINKTEN hat uns alle umgehend überzeugt: In der Welt des Romans hat sich eine Robotik-Industrie entwickelt. Sie stellt künstliche Partner_innen her, die von realen Menschen nicht zu unterscheiden sind – wunsch- und maßangefertigte Partner_innen und Partner, die allen nur denkbaren Beziehungsanforderungen gerecht werden. Doch die Zahl der Selbsttötungen hat sich verzehnfacht. Emma kreiert immer wieder Szenarien, die in der Zukunft liegen – allerdings in der allernächsten Zukunft, kaum eine Handbreit von unserer Lebenswirklichkeit entfernt. Vielleicht leben wir gar – ohne es zu wissen – bereits in der Testphase dieser Möglichkeiten.

Sara Glojnarić:  Emma und ich, wir haben uns viel ausgetauscht, auch über ihre Roman-Setzungen. All das hat mit einem tollen Treffen in Berlin angefangen, bei dem wir uns von Beginn an umwerfend gut verstanden haben. Wir haben sofort gemerkt, dass wir uns für dieselben Themen und künstlerischen Fragestellungen interessieren, auch in Bezug auf das Theater-Erlebnis des 21. Jahrhunderts. Im Laufe des Prozesses haben wir uns gegenseitig sehr viel Material zur Inspiration geschickt, vor allem auch über die Frage von Erinnern und Vergessen und zu den Feldern der Gedächtnisarbeit. Dabei verlief unsere Arbeit nie linear. Und doch hat sich nach einigen Monaten eine große Konzentration und Fokussierung ergeben, aus der heraus die Fassungen des Librettos entstanden sind. Parallel dazu habe ich angefangen, das musikalische Material zu kreieren.

MG: Der individual-psychologische und der gesellschaftlich-kulturelle Bereich der Gedächtnisarbeit haben mich besonders interessiert. Mit Tilman ist ja quasi die gesamte Hirnforschung in unserem Stück verankert. Auf diesem Feld gab es einen Paradigmenwechsel: Das menschliche Gehirn wird nicht mehr als eine Art Festplatte begriffen, auf der alles fix gespeichert ist und seinen gesicherten Platz hat, sondern als Ort, der einem permanenten Prozess unterworfen ist. Jedes Aufrufen einer Erinnerung verändert die Erinnerung. Wir glauben, etwas fest zu besitzen, aber es ist uns alles andere als sicher. Nur weil wir meinen, dass etwas so war, muss es nicht faktisch so gewesen sein. Es gibt zu viele externe und interne Einflüsse auf die Erinnerung, als dass diese dagegen bestehen könnte – allein die Motivation im Moment des Erinnerns ist bereits entscheidend. Im Moment des Erzählens lässt man dann weg usf. All das formt neu und verändert. Das heißt aber auch, dass man mit Erinnerungen umgehen kann, dass man sie weiterdenken, sie überschreiben und neu kodieren kann. Das andere weite Feld ist das kulturwissenschaftliche, dessen Grenzen zur Philosophie fließend sind: Was ist überhaupt das Gedächtnis und wo sitzt es? Natürlich gibt es auch eine politische Dimension, zumal in Deutschland, wo die Erinnerungskultur besonders gepflegt wird. Wir leben derzeit in einer Dekade, in der die letzten Zeitzeugen sterben, die den 2. Weltkrieg bewusst miterlebt haben. Damit stirbt das Erfahrungsgedächtnis einer ganzen Generation. Es stellt sich die Frage, wie wir weiter damit umgehen. Worauf stützen wir uns, wenn die Erinnerungen schon bei den Zeitzeugen wandelbar waren? Die Gedächtnisforschung ist ein riesiges Feld.

Robert Läßig : Über diesen Aspekt der Erinnerungs-Verwahrung geht ja MEMORY WATCH weit hinaus. Da wären die Erinnerungen beispielsweise der Holocaustüberlebenden nicht verloren, sondern für immer gespeichert, vielleicht sogar in ihrer originären Reinform, was auch immer das dann heißen mag. Theoretisch könnte man dann jederzeit auf alles zugreifen.

Foto: Laura Nickel

HV: Bei den herkömmlichen Archiven ist immer die Frage, wer denn überhaupt bestimmt, was überdauernswert ist, was also eingespeist und abgelegt wird. Das ist auch immer eine Frage von Macht. Wie konstituiert sich das allgemeine politische und kulturelle Gedächtnis? Wenn wir von dieser Frage aus weitergehen und wirklich alles vorhanden und abrufbar wäre, stehen wir auch gleichzeitig wieder am Nullpunkt. Wenn alles unstrukturiert abrufbar ist, steht man vor einem riesigen Konvolut an Bits und Bytes wie vor einer unlösbaren Aufgabe. An was soll man sich halten? Was soll man herausziehen? Wir erkennen an dieser Fragestellung, wie politisch und gesellschaftsbildend unser kulturelles Gedächtnis wirklich ist.

RL : Das ist dieselbe Frage, die auch das Thema KI aufruft: Es ist ja alles in irgendeiner Form im Internet vorhanden und abrufbar, aber wie filterst Du das? Nach welchen Algorithmen gehst Du vor? Und welche Unendlichkeit geht dabei verloren?

MG : Ja, wie kuratiert man das? Und an die Frage nach der Macht schließt sich auch die Frage an, wer überhaupt Zugang zu den digitalen Speichern hat.

HV: Wir haben mit unserem MUSEUM DER UNLIEBSAMEN ERINNERUNGEN auch eine Art Archiv geschaffen. Den großen Komplex der Gedächtnisarbeit überführen wir von der Theaterbühne auch ins Museum als einem Aufbewahrungsort, den wir in der Kammerbühne installiert und mit realen Erinnerungen befüllt haben – mit Objekten, die mit Erinnerungen verbunden sind sowie mit Erinnerungs-Niederschriften.

MG : Es war aufregend, von Beginn an über die eigentliche Bühnensituation hinauszudenken und eine Installation zu erfinden, in der man sozusagen den Zustand der App sehen kann, den Serverraum, in dem die schweren Erinnerungen abgespeichert werden. Er ist bewusst analog gehalten, weil wir eine haptische Annäherung an die Lebenswirklichkeit der Menschen haben wollten, nachdem deren Erinnerungen zunächst im digitalen Niemandsland verschollen sind.

Sarah Mittenbühler: Weil das Video auf der Bühne einen großen Raum einnimmt, sollte die Ausstellung der Erinnerungen einen Gegenpol setzen: Hier haben wir konkrete Objekte, die für das Unfassbare vieler Einzel-Erinnerungen stehen. Wir haben überlegt, in welcher Form wir die Erinnerungen ausstellen könnten, und sind auf Gläser gekommen, in denen die Objekte konserviert werden. Dann haben wir Erinnerungen gesammelt, die die Menschen loswerden wollten. Es ist tatsächlich sehr spannend sich selbst einmal mit der Frage zu konfrontieren, welche Erinnerungen man eigentlich loswerden möchte – will ich schlechte Erinnerungen wirklich vollständig verlieren? Wir haben sehr spannende Erinnerungstexte bekommen, auch einige Objekte – und das alles ist jetzt in unserer Ausstellung zum Musiktheater einsehbar.

MG: … mitsamt einer Soundcollage, die Sara für unser Museum komponiert hat. Denn es gibt auch eine musikalische Gedächtnisarbeit.

HV: Die leistet Sara, wenn sie sich auf die musikalische Geschichte des Mondes bezieht und zugleich popkulturelle Anspielungen macht – der Song von R.E.M. SHINY HAPPY PEOPLE ist nur die offenkundigste. Dazu gibt es zahlreiche musikalische Bezugnahmen auf die Tradition der Klassischen Musik, die das Wesen und den Klang des Mondes reflektieren: das Lied an den Mond aus Dvořáks RUSALKA, die MONDNACHT von Robert Schumann, Debussys CLAIRE DE LUNE usf. – und zahlreiche eingespielte Samples sowie Live-Elektronik.

Friederike Scheunchen : Dass all das zusammenkommen kann, müssen wir das Verhältnis der Elemente ganz genau ausloten und mit der Klangregie in Beziehung setzen. Alle Sänger_innen sind verstärkt, auch die Schauspielerin und die Instrumente, dazu liegen unterschiedliche Effekte auf den Stimmen. Damit mussten wir erst einmal umgehen lernen und herausfinden, wie der jeweilige Effekt am besten zum Klingen gebracht wird. Es gibt zum Beispiel Szenen, in denen ein ASMR-Effekt verwendet wird, der sehr intim ist und geradezu kitzelnd direkt ins Ohr geht. Damit wird der Inhalt der Sätze musikalisch noch einmal auf eine eigene Art transportiert und transformiert. Es gibt verstärkte Momente, es gibt Hall-Effekte, die Stimmen kommen zuweilen von überall. Wir haben Samples, die von der Bühne aus gesteuert werden, und welche, die von der Klangregie getriggert werden. Es gibt ein Keyboard, das auf ganz unterschiedliche Weisen erklingt, und ein Drumset, das wiederum auf die Popkultur zielt. Aus all dem ergeben sich verschiedene Layer, die in den Szenen unterschiedlich übereinandergelegt werden und jeweils eine ganz eigene musikalische Charakteristik, mal melancholisch und verträumt, mal rockig – kraftvoll für die Szenen erzeugen.

SG : Ich habe in den letzten Jahren viel zum Thema Nostalgie gearbeitet, habe mich und meine Arbeit dazu kritisch in Beziehung gesetzt. Es ging mir um die Frage, wie wir uns erinnern. Was passiert mit Geschichten, die aufgenommen und wiedererzählt werden? Vielleicht liegt diese Affinität in meiner Biographie. Ich bin in Jugoslawien geboren, aber in Kroatien aufgewachsen. Die Geschichte dieser Länder ist beladen von komplexen Themen, die bis heute in den Erzählungen der Menschen verarbeitet werden. Auch meine starke Beschäftigung mit der Popkultur lebt von diesem Drang zur Durchdringung und Aufarbeitung. Die Nostalgie ist ja auch ein Teil ihrer Identität und Stärke. Deshalb ist sie immer ein großer Bezugspunkt meiner kompositorischen Arbeit. Es ist eine bewusste Entscheidung, diese Richtung einzuschlagen – und bei diesem Theaterprojekt war es für mich ein absolut logischer Schritt: Auch die Musik ist Erinnerungskultur. Meine Musik für NEURO-MOON ist zuweilen fast tonal, weil ich mich permanent mit dem musikalischen Erinnerungs-Kanon auseinandergesetzt habe – dem der Klassischen Musik und dem der Popmusik. Dadurch, dass das die Ausgangsfrage war, schien es mir falsch, davor wegzurennen. Ich musste die Ästhetik einfach annehmen und verarbeiten, sie quasi rekonstruieren wie das mit jeder Erinnerung passiert: abrufen führt zur Veränderung, immer und immer wieder, bis die ursprüngliche Erinnerung vielleicht gar nicht mehr zu erkennen ist. Für mich ergab das auch deshalb Sinn, weil ich das Stück selbst als Erinnerung sehe: Die Musik muss das widerspiegeln. Die Musik kann den Zustand zwischen Realität und Nicht-Realität, zwischen Erinnern und Vergessen vermitteln. Nicht immer kommuniziert Musik so viel, wie wenn sie über ihren eigenen Realitätsgehalt reflektiert. Und weil das in diesem Fall auf einer Bühne geschieht und an die Geschichte(n) der Figuren angebunden ist, gewinnt das Vorhaben eine Klarheit, die über die absolut-musikalische Arbeit weit hinausreicht.

RL: War das auch der konkrete Auftrag an Dich und Emma? Was war der Startpunkt, von dem aus Ihr losgelegt habt, Euch über das alles Gedanken zu machen?

SG: Ich glaube, bei einem solchen Projekt gibt es viele Anfänge. Mit Heiko und Clemens Thomas, dem damaligen Künstlerischen Leiter des Ensemble Recherche, haben wir uns ein halbes Jahr nur über Ideen und Möglichkeiten ausgetauscht. Was wäre interessant für mich, was ist relevant für unsere Zeit, für das musikalische Theater? Wir hatten dann ein riesiges Reservoir an Themen und Herangehensweisen, unzählige Fragen, von denen wir die meisten unbeantwortet stehen ließen. Und trotzdem haben wir unser Themenfeld mehr und mehr eingekreist: Und plötzlich hatte ich diese Idee vom Mond, der eigentlich nur ein Server ist und die Erinnerungen der Menschen in sich trägt.

Ich erinnere mich noch genau an diesen Moment und die Verwunderung von Clemens und Heiko im Sinne von: Hey, wir hatten doch gerade über etwas ganz anderes geredet?! Aber die Idee hat uns alle sofort gecatcht und wir haben uns dann sehr schnell für Emma entschieden, weil diese Idee exakt aus ihrem schriftstellerischen Kosmos entstammen könnte.

MG : Als ich mich für diese Uraufführung mit der ersten Landung auf dem Mond beschäftigt habe, bin ich auf die Aussage eines Wissenschaftlers gestoßen, der damals gesagt hat: Auf der Erde, da beschäftigen wir uns mit der Gegenwart, aber auf dem Mond können wir in die Vergangenheit sehen. Soviel zum Mond als Server für unser Erinnerungsgut. Er hat das rein geologisch auf die Gesteinsproben der Mondlandschaft bezogen und sagte, hier könne der Mensch eine Million Jahre zurückblicken, was die Sonne gemacht hat. Das ist genau unser Thema – nur eben in einer analogen Ausformung der 1960/70er Jahre.

SG: Als ich das Stück konzipierte, habe ich darüber nachgedacht, ob es auch im Instrumentarium nostalgische Klagerzeuger geben könnte. Und dann fand ich diese Musikboxen, die wie Spieluhren mit gestanzten Papierstreifen zum Klingen gebracht werden. Man muss vorab stanzen und dann selber kurbeln für ein Retro-Klangresultat, das wir alle sofort wiedererkennen und das Erinnerungen in uns auslöst. Alle Musiker_innen haben solche Musikboxen. Mit ihnen begeben wir uns ins Stück, in die Welt der App: Viele Spieluhren spielen gleichzeitig. Das kann man nicht steuern, das ist jedes Mal ein bisschen anders. Über die Vorstellungen werden sich die Erinnerungsklänge verändern. Damit ist die Nostalgie auch an eine gewisse Unberechenbarkeit gekoppelt. Die musikalische Textur hat etwas von einer Collage.

SM: Die länglichen Papierstreifen der Musikboxen finden sich auch in der Struktur des Bühnenbilds wieder. Ich habe mir immer einen abstrakten, vieldeutig erfahrbaren Raum vorgestellt, der sehr konkrete Szenen fassen, aber auch das Innere eines App-Betriebes veranschaulichen kann, denn zuweilen befinden wir uns ja mitten in der App. Auf der Bühne gibt es neuronale Bahnen, Verknüpfungen, Gedächtnisstränge, die wiederum gleichzeitig an die Papierstreifen der Musikboxen erinnern. Wir haben aber auch einen ganz konkreten Wohnraum, der allerdings nur teilweise echt ist. Zum anderen Teil besteht er aus Projektionen durch Roberts Video. Das Video ist ein elementarer Bestandteil. Alles auf der Bühne dient auch gleichzeitig als Leinwand, auf die wir Erinnerungen schießen können. Wir haben also eine Vielzahl an Räumen, angefüllt mit dem Erinnerungsgut aus unzähligen Leben. Zusätzlich können wir verschiedene Tiefenwirkung herstellen, wir können heranzoomen und uns distanzieren. Auch die Position der Zuschauer_innen wird dadurch immer wieder in Frage gestellt. Es gibt einen Steg im Publikum, auf dem agiert wird. Das Publikum findet sich auf diese Weise selbst inmitten der App wieder. Das führt natürlich zu einer besonderen Klangerfahrung: Die Konzeption des Raumes ermöglicht eine andere ästhetische Erfahrung, weil wir die traditionelle Bühnensituation aufgelöst haben.

Foto: Laura Nickel

HV: Das entspricht auch Deinem großen Bedürfnis nach einem Surround-Klang. Es war von Anfang an klar, dass Du ein performatives und installatives Musiktheater machen möchtest. Tatsächlich ist eine Art Moon-Show entstanden. Das Stück setzt eben nicht nur auf reine Narration, sondern auch auf Performativität, d.h. es wird auch außerhalb der eigentlichen Rollen agiert. Die Akteure wechseln zwischen privaten Momenten, öffentlichen Auftritten und fungieren auch als Gedächtnis-Arbeiter_innen der App. Zudem gibt es zeitliche Sprünge.

SG: Diese Herangehensweise entspricht der Musik, weil auch sie nicht ausschließlich auf einer linearen Ebene funktioniert. Zudem findet Entkoppelung statt. Dadurch ergeben sich Zwischenräume, in denen man gegen das Narrativ arbeiten kann. Hieraus entspringt eine neue, lebendigere und aussagekräftigere Klangqualität.

SM: Auch die Musiker_innen des Ensemble Recherche sind Teil des Bühnengeschehens und tragen ein Kostüm. Es war sehr reizvoll, sich auch für sie einen ganz eigenen Kostüm-Kosmos ausdenken zu können.

SG; Das Ensemble Recherche ist wirklich sehr besonders. Wir kennen uns gut und haben eine lange künstlerische Arbeitsbeziehung. Es ist schon fantastisch, dass dieses Ensemble auch nach 35 Jahren noch die Offenheit hat, verrückte Dinge auszuprobieren, die vielleicht weit entfernt sind von dem, was sie bisher gemacht haben. Das inspiriert mich. Und das fasziniert mich. Sie haben einfach immer Lust, sich offen zu zeigen gegenüber dem, was kommt.

FS: Sie kennen sich auch untereinander sehr gut und verstehen sich blind. Und ihre großartige Offenheit ist kombiniert mit einem riesigen Erfahrungsschatz, auf den man jederzeit zurückgreifen kann. Dazu gibt es eine große Leidenschaft, auch szenisch aktiv zu sein, sodass wir sie als Performer_innen für das Mond-Gedächtnis in den App-Betrieb integrieren konnten. Licht und Video dazu – und die App läuft, oder?

RL: Auf jeden Fall. Raumgreifend. Wir bieten zum Beispiel Laser-Effekte. Das Video schwappt zudem ins Publikum hinein und verwischt die Grenzen. Die App vereinnahmt eben nicht nur die Performer_innen, sondern auch die Zuschauer_innen. Am Ende sind auch sie Teil einer affirmativen, erlebnishaften Bühnen- Show – und müssen sich gerade deshalb die Frage stellen, wie sie zu diesem App-Betrieb eigentlich stehen.

HV: Sara hat eine Partitur für vier Sänger_innen, eine Schauspielerin, fünf Instrumente, Live-Elektronik und Video geschrieben – das Video ist explizit unter die Hauptbestandteile gesetzt. Emma und Sara haben da sehr genaue Angaben gemacht.

RL: Ehrlich gesagt, ich weiß gar nicht, Sara, wie viele von Euren Vorschlägen überhaupt noch in Reinform auf der Bühne zu sehen sind bzw. wie konsequent wir ignoriert haben, was da angegeben ist.

SG: Ich finde es vollkommen okay, dass Du das ignoriert hast. Musiktheater ist Teamarbeit, und die Frage der Autorschaft wirklich sehr komplex. Was auf der Bühne stattfindet ist letztlich ein irres Zusammenspiel von unzähligen Entscheidungen. Der Input muss von allen Seiten kommen. Und es muss Momente geben, in denen der Input ignoriert wird. Weil dadurch etwas entstehen kann, das besser ist.

FS: Es gibt auch einige Szenen, die uns Interpretierenden viel Freiraum lassen, was die rhythmische Organisation angeht.

SG: Absolut. Ich habe in vorherigen Projekten die Erfahrung gemacht, dass man auf Basis dieser Freiheit trotzdem noch Änderungen vornehmen kann, wenn es wirklich notwendig ist. Und oft ist es notwendig, denn wir arbeiten alle mit Annahmen und Spekulationen. Komponieren ist eigentlich Spekulieren. Und erst wenn man wirklich zusammenkommt, in einem Raum sitzt, gemeinsam sieht, hört und spürt wie die Menschen agieren, erst dann beginnt die eigentliche Arbeit. So ist das immer im Theater.

Neuro Moon ©Theater Freiburg

HV: Literarisch gesehen gibt es keinen Himmelskörper, der größeren Einfluss auf die Erde ausübt wie der Mond: ein bleicher Kreis als Projektionsfläche für Sehnsüchte, Vorstellungen und Traumgebilde. Was ist das Potenzial des Mondes in Bezug auf Musik und Szene? Ist der Mond nurmehr noch ein Zitat aus der Kulturgeschichte? Nur noch romantische Kulisse, vielleicht gar nur noch ironisch lesbar? Und das winzige menschliche Gegenüber zersplittert in die Einzel-Bestandteile seiner einstmaligen Projektionen, in Brocken aus Mondgestein, zusammengesetzt aus Nostalgie, Entdeckungsfieber, Technikbesessenheit, Domestizierungswahn, Wettbewerb – und dem Wunsch nach Schwerelosigkeit?

MG: Er ist ein Meta-Kommentar auf unserer Zeit. Allein während unserer Proben- und Vorbereitungszeit ist das Thema KI noch einmal durch die Decke geschossen. Wir haben uns täglich die Links hin- und hergeschickt – und jetzt fordern gar die großen Tech-Unternehmen ein Moratorium. Die Diskussion ist allgegenwärtig. Das hängt für mich auch mit dem Mond zusammen. Der Weltraumtourismus wird befördert, die reichsten Menschen der Erde streiten über Vor- und Anteile – der Mond wird kolonialistisch vereinnahmt. Der Mensch versucht abzugreifen, was er bekommen kann. Dafür stehen in NEURO-MOON Sumi und Aslan, die einfach nur ihre eigenen kapitalistischen Interessen vertreten. Wenn die Spezies Mensch auf der Erde nicht mehr leben kann, gehen wir eben auf den Mars, der Mond ist ein lehrreicher Zwischenstopp in dieser Entwicklungsgeschichte.

FS: Es ist der große Reiz am zeitgenössischen Musiktheater, das hier die Themen unserer Zeit verhandelt werden. Ich hatte in den letzten Wochen sehr schöne Begegnungen beispielsweise mit einer Frau, die im Zug neben mir saß, und der ich von NEURO-MOON erzählt habe. Sie war Psychologin und fand die Fragestellungen extrem spannend. Und letzte Woche bin ich mit einem Neurologen darüber ins Gespräch gekommen – das ist das große Plus des zeitgenössischen Musiktheaters: Es geht uns alle unmittelbar an. Und bei unserer Herangehensweise vor allem auch die jüngeren Generationen, die vielleicht eine größere Nähe zur Technologie und Künstlichen Intelligenz aufweisen. Mit NEURO-MOON haben wir die Chance, die Menschen ins Musiktheater zu holen.

HV: Dein großes Anliegen, ist es, Sara, das Musiktheater offener zu denken, performativer, zugänglicher – und mit einer expliziten Einladung an die jüngere Generation, der Du ja auch selber angehörst. Wie muss Musiktheater heute und in der Zukunft beschaffen sein, dass es den Ansprüchen der Zeit und der Kunstform genügen kann?

SG: Ich glaube, ich habe mir einfach erlaubt, das zum Klingen zu bringen, was ich als Zuschauerin gerne hören würde. Ich frage mich immer: Für wen ist das? Für wen machen wir diese Projekte, an denen wir drei Jahre lang arbeiten. Um überhaupt solch ein Projekt zu starten, muss ich das Gefühl haben, dass gerade dieses Stück auch Menschen begeistern könnte, die nie im Theater sind, die vielleicht noch nie in ihrem Leben neue Musik gehört haben – und die trotzdem einen Zugang zu diesem Stück finden sollen. Das wäre ein riesiger Erfolg. NEURO-MOON ist mein Versuch, diese Vorstellung ein bisschen zu träumen.

HV: Nach dem Crash von NEURO-MOON ist die Lösung von Sumi eine gigantische PR-Aktion für die Glaubwürdigkeit der App. Sumi: „Wir brauchen Gefühle gegen diese Gefühle.“ Alle gehen auf den Mond und machen gute Miene zum bösen Spiel. Und da Gefühle das sind, was das Musiktheater besonders gut kann, werden wir eingelullt… oder etwa nicht?

MG: Sumi möchte mit dem Ausstellen der Gefühle zeigen: Bei uns ist alles sicher, vertrauen Sie weiter unseren Mond-Servern, so wie wir das tun. Deshalb fliegen wir hin und demonstrieren Ihnen das. Die echten Gefühle unseres Startup-Trios sind aber nicht so eindeutig und vor allem sehr unterschiedlich. Tilman ist ja schon vorher derjenige, der am meisten mit der Situation hadert, in der er sich nach der Erfindung von NEURO-MOON wiederfindet. Er hat Angst, dass sein Mond-Trip etwas von der Magie des Mondes nimmt. Selina und Fenja versuchen dagegen, die Aktion einfach bis zum Ende durchzuziehen. Und trotzdem haben auch sie viel mitgemacht. Die Situation wird brüchiger, je näher sie sich dem Mond annähern, mit jedem Kilometer haben sie ein paar Fragen mehr. Am Anfang stand die Begeisterung, die schlechten Erinnerungen des Lebens einfach hinter sich zu lassen – und jetzt finden sie sich übermannt und geschluckt von einem riesigen Tech-Unternehmen, stehen auf dem Mond und sehen auf diese winzige Erde, die ihr Zuhause ist. Sara und Emma setzen der Storyline nicht einfach ein Ende, sondern leuchten nochmal tief in die Figuren hinein und stellen Fragen, anstatt am Ende die Antworten zu liefern. Es war uns allen wichtig, dass das Ende offen bleiben soll und nicht durch Antworten zugekleistert wird. Wie ist der Standpunkt, auf dem wir jetzt gelandet sind, und wie geht es von hier aus weiter?

HV: In Georg Büchners Erzählung LENZ gibt es einen schönen Satz: „… der Himmel war ein dummes blaues Aug, und der Mond stand ganz lächerlich darin, einfältig.“ Der Mond weiß auch nicht, was er mit unseren Erinnerungen anfangen soll. Mit seiner kolonialistischen Vereinnahmung zerstören wir überdies sein utopisches Potenzial. Um mit Tilman zu sprechen: „Ich wollte nie auf den Mond, mein Fußabdruck könnte diese magische Lampe ausknipsen.“ Was Tilman meint und später auch formuliert: Wir betreiben heute „Die Entzauberung der lunaren Seele“. Die Hochtechnifizierung entwertet den Sehnsuchts-Satelliten, den sich der Mensch über Jahrhunderte als imaginären Zufluchtsort erschaffen hat. Selina hält dagegen: Es gibt so viele Monde wie es Phantasien gibt. Wir müssen sie nur gestalten. Und den Rest einfach wegsperren im Hochsicherheitstrakt unseres MUSEUMS DER UNLIEBSAMEN ERINNERUNGEN.


Das Gespräch wurde vom Dramaturgen Heiko Voss mit dem Neuro Moon-Team für das Programmheft des Theaters Freiburg geführt und Szenik vom Theater Freiburg zur Verfügung gestellt.

Nächste Vorstellungen: 07.05., 14.05., 18.05.

theater.freiburg.de

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