Website-Icon szenik

„Die Einfachen“ im Theaterhaus Stuttgart: Interview mit dem russischen Komponisten Sergej Newski

Newski_(c) Harald Hoffmann.com_3.jpg

Am 27. Juli präsentieren der Komponist Sergej Newski und die Neuen Vocalsolisten die Dokumentaroper „Die Einfachen“. Ein Werk, dass das Thema der Homosexualität im Russland der 20er Jahre behandelt. szenik hat vorab mit dem Komponisten über diese neue Oper gesprochen.

Als »Die Einfachen« benannte sich im nachrevolutionären Leningrad der 1920er Jahre die Gay-Subkultur, zu der Arbeiter: innen, Kleinangestellte und Student:innen gehörten. In wiederentdeckten Briefen an den berühmten Psychiater Wladimir Bechterev, 2016 publiziert durch die Wissenschaftlerin Ira Roldugina, entfaltet sich das Bild einer Generation, die versuchte, für die neu entdeckte körperliche Freiheit eine Sprache zu finden und sie zugleich kritisch zu reflektieren.

Die Dokumentaroper lässt die Schicksale eines Bauers, einer Studentin und eines Lehrers wiederaufleben als »Hommage an eine faszinierende Generation, die unter extremen Herausforderungen ihrer Zeit versucht, ihre Würde zu bewahren.«

 Jakob Berger I Musik der Jahrhunderte

Herr Newski, worum geht es bei der Dokumentaroper „Die Einfachen“? 

Es wird eine große Produktion mit Video und Elektronik. Alle meine Werke beziehen sich auf dokumentarisches Material. Ich habe vor fünf Jahren eine wissenschaftliche Publikation der russischen Historikerin Ira Roldugina, die sich auf Sozialität im Russland der 20er Jahre spezialisiert hat, gelesen. Sie hatte Schriften des bedeutenden Psychiaters Wladimir Bechterev entdeckt. Dieser bekam Briefe von diversen Menschen aus dem ganzen Land, von Bauern bis StudentInnen. In diesen berichteten sie über ihre Sexualität und wollten wissen, wie sie damit umgehen sollten. Dabei tauchten viele Fragen zu Homosexualiät auf.

Im Zentrum steht die Geschichte des Bauers Nika, einer sehr schillernden Persönlichkeit. Er wurde in Sibirien geboren und siedelte in den 30er Jahren nach Baden-Baden um. Dort wurde er interniert und gelangte später nach Sankt Petersburg, wo er als Sekretär bei Geheimdienst arbeitete. In den Briefen an den Psychiater spricht er reflektierend und sehr persönlich über seine Erfahrung. 

Ich habe die Briefe zwei Monate lang studiert und daraufhin das Libretto verfasst. Ich wollte schon lange ein Stück mit den Neuen Vocalsolisten machen; allerdings erschien es mir schwierig, den SolistInnen die Rolle der russischen Bauern zu erteilen. Wir erzählen daher die Geschichte doppelt, also mit vier SchauspielerInnen, die auf Russisch sprechen, und fünf SängerInnen der Neuen Vocalsolisten. 

Es ist ein komplexes Werk, in dem sich visuell die Gesichter der SängerInnen in die Gesichter der SchauspielerInnen (und umgekehrt) verwandeln werden.

Beim Lesen des Textes hatte ich den Eindruck, stellenweise Berichte aus unserer heutigen Zeit zu lesen…

Als wir die SchauspielerInnen gebeten haben, die Texte zu lesen, klang es wie ein politisches Statement. Es fasziniert mich, mit welcher Freiheit die VerfasserInnen diese Briefe verfasst haben. Sie stellen sich darin nicht als Opfer dar. Sie sind auf der Suche nach einer Sprache, wie sie sich selbst und ihre Liebe artikulieren können. Sie haben fast alle Kriegserfahrung; eine Frau erzählt zum Beispiel von ihrer Freiheit in der Armee, weil sie dort eine Männeruniform tragen konnte. Es sind wirklich alles sehr spannende Biographien.

Wie haben Sie versucht, den Inhalt musikalisch hervorzuheben?

Ich habe versucht, es als Überlagerung von Monologen darzustellen. In dem Mittelteil erzählen zwar alle ihre Geschichte, aber sie werden gleichzeitig von der Musik getragen. Ich versuche bei der Frage dessen, was die Inhalte transportiert, immer zu wechseln. Jede/r Sänger/in hat zum Beispiel einen Monolog und ein Solo. Der Fokus wechselt zwar immer, aber die Struktur bleibt klar. Zudem gibt es eine Einleitung und einen Epilog im Videoformat.

 Jakob Berger I Musik der Jahrhunderte

Homosexualität ist immer noch ein sehr schwieriges Thema in Russland. Wie ist es für Sie, darüber im Ausland zu sprechen?

Wir wollen definitiv versuchen, das Werk in Russland aufzuführen und führen bereits ein paar Verhandlungen. Ich versuche über dieses Thema, sei es in Russland oder im Ausland, auf die gleiche Weise zu sprechen. 

Ich versuche kein politisches Kapital aus meinen Werken zu schlagen, sondern über Themen zu sprechen, die mich berühren. Bei allen Geschichten, die ich bisher vertont habe, sei es über deutschsprachige Auswanderer wie Thomas Mann oder Arnold Schönberg, oder Autisten… Zu all diesen Menschen habe ich tiefe Empathie empfunden. Dieses Gefühl eines realisierten Lebens und zugleich einer leichten Depression kann ich nachvollziehen. Der politische Aspekt der Geschichten spielt dabei keine primäre Rolle. 

Die Vertonung dieser Briefe ist ein Projekt, das ich seit fünf Jahren realisieren möchte. Aus dem einfachen Grund, dass es sehr wenige Privatzeugnisse aus dieser Zeit gibt. Seit drei, vier Jahren existiert in Russland das geniale Projekt „Durchgelebt“, welches online Tagebücher veröffentlicht. Dort findet man Schriften von bekannten Personen, wie Prokofjew, oder von sehr einfachen Menschen. Diese Wiederbelebung des Privaten und die Zeit der 20er/30er Jahre in Russland finde ich sehr spannend. 

Versuchen Sie mit Ihren Werken, Menschen eine Stimme zu geben?

Ja, das sind schöne Worte. Es ist eher so, dass ich Empathie empfinde. Zum Beispiel für Schönberg oder Brecht in Kalifornien (letzter hat sich dort völlig fehl am Platz gefühlt) oder zum Heiligen Franziskus… Wenn man eine Oper schreibt, ist es wichtig, sich mit den Menschen zu identifizieren. 

Was interessiert Sie an der Dokumentaroper?

Viele Zeitgenossen von mir wählen komplexe Literaturquellen aus, die selbst schon stilistische  Modulationen in sich tragen. Dabei passt die plastische Sprache manchmal nicht zur Musik. Dokumentarische Stoffe lassen mehr Flexibilität in ihrem musikalischen Umgang. Es macht natürlich auch sehr viel Arbeit.

Bei diesem Projekt hatte ich zwanzig Seiten, die ich in etwa einem Monat zu einem Libretto zusammengeschnitten habe. Ich hoffe sehr, dass ich irgendwann einmal eine komplett andere Richtung einschlagen werde, wie zum Beispiel eine Arbeit an experimentalen Textmontagen oder, umgekehrt, die Vertonung einer ganz konventionellen Geschichte. Es ist auch schwierig, wenn man eine absolute Freiheit hat, denn Oper entwickelt sich stetig. Man kann heute keine einfache Dialog-Oper mehr schreiben. Andererseits, wenn man viel mit Textmontagen gearbeitet hat, entwickelt sich auch manchmal eine Sehnsucht nach einem ganz konventionellen Stoff. 

 Jakob Berger I Musik der Jahrhunderte

Blicken Sie Ihrer Premiere mit Vorfreude entgegen?

Oper ist immer eine kollektive Arbeit. Hier in Stuttgart haben wir zu dritt mit Ilya Shagalov, einem grandiosen Videokünstler, der viel mit Kirill Serebrennikov gearbeitet hat, kooperiert. Ich bin sehr stolz, ihn in unserem Team zu haben. Und natürlich Alex Nadjarov, ein berühmter russischer Komponist, der das Sounddesign entworfen hat. 
Ja, wir sind sehr gespannt.

Die Einfachen
***
Am 27.07.2021 im Theaterhaus Stuttgart
Im Rahmen des SOMMER festival neuer musik IN STUTTGART

Dokumentaroper für fünf Sänger:innen, Elektronik und Video (2020/21) UA
Libretto von Sergej Newski
nach Briefen aus Russland nach 1920, entdeckt und publiziert von Ira Roldugina
Komposition: Sergej Newski
Video, Bühne und Regie: Ilya Shagalov
Live-elektronische Realisierung: Alex Nadjarov

***

Neue Vocalsolisten
Truike van der Poel, Mezzosopran
Daniel Gloger, Countertenor
Martin Nagy, Tenor
Guillermo Anzorena, Bariton
Andreas Fischer, Bass
Johanna Vargas, Live-Kamera

***

Schauspieler:innen im Video:
Igor Bychkov, Gladston Mahib, Savva Savelyev, Uliana Lukina
Kamera für das Video: Artur Bergart

Foto: Harald Hoffmann

Die mobile Version verlassen