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„Das Narrenschiff“ von Marthe Meinhold und Marius Schötz im Theater Basel:  „Draußen herrscht Wettbewerb; drinnen verbinden sich Menschen zu einer Gruppe.“

Das ‹Narrenschiff› von Sebastian Brant, 1494 in Basel erschienen, war der erste deutschsprachige Bestseller. Die Moralsatire versammelt eine Typologie von über hundert Närrinnen und Narren auf symbolischer Reise in das imaginäre Land Narragonien. Szenik hat mit den Theaterregisseuren Marthe Meinhold und Marius Schötz über ihre freie Inszenierung und heutige Narreteien gesprochen.

Für seinen Bestseller recherchiert Sebastianus Brant auf einem seltsamen Schiff. Die dorthin verstossenen Narren sind auf einer Reise ohne Ziel. Über einen Sturm, die ein oder andere Liebschaft, einige Sammlerstücke und viele Lieder erreichen sie am Ende die Selbsterkenntnis. Zumindest rückblickend.

Marthe Meinhold und Marius Schötz haben – sehr frei nach dem Original – Text und Musik für ein heutiges ‹Narrenschiff› geschrieben. Spätmittelalterliche Verse treffen auf schmissige Songs; dazu Pianobegleitung. Ein Reigen mit Reimen und Refrains über die immer wieder mögliche Veränderung.

Aktuell auf dem Spielplan des Theater Basel: www.theater-basel.ch

Ihr präsentiert aktuell „Das Narrenschiff“ von Sebastian Brant im Theater Basel. Was hat euch an diesem Werk gereizt und wie seit ihr bei der Inszenierung vorgegangen? 

Marthe: Als uns die Leitung und Dramaturgie des Theater Basel diesen Stoff vorschlug, waren wir sehr interessiert. In unseren Arbeiten setzen wir uns immer mit Gruppen auseinander. Wie reagiert und agiert eine spezifische Gruppe auf der Bühne? Wie wird sie handlungsfähig? In welcher Situation befinden sich die Beteiligten und wie kann man diesen Schaffensprozess zeigen? Darin liegt auch für uns der Reiz des „Narrenschiff“. Wir treffen hier auf eine Ansammlung von Menschen, die auf eine bestimmte Art und Weise kategorisiert und daraus folgend zu einer spezifischen Gruppe gemacht werden: die Närr:innen. 

Marius und ich arbeiten immer im Duo. Zu Projektbeginn haben wir normalerweise kein Material und beginnen mit Gesprächen und Treffen mit der Besetzung. Aus diesem Prozess heraus entwickelt sich dann ein Stück.

Marius: Wenn wir mit den Vorgesprächen starten, bedienen wir uns keinem Fragenkatalog, sondern versuchen einfach ins Gespräch zu kommen und gleich das umzusetzen, was man im Idealfall später auf der Bühne sehen soll: Eine Gruppe, die sich ohne Leitung oder Hierarchie gemeinsam bewegt. Da wir aber nicht uns und unsere Gespräche imitieren wollen, suchen wir immer nach einem anderen Kontext. 

Die Basis von Menschen, die hier gemeinsam auf einem Schiff sind und ohne Regeln funktionieren, erscheint uns wie eine Art Spielangebot. Sich zu verkleiden, eine andere Rolle einzunehmen und dabei eigene Texte zu sprechen, ist für uns sehr interessant. Wir möchten nicht Personen mit ihren Geschichten und Erfahrungen ausstellen, sondern diese in einen bestimmten Kontext setzen. Hier in Basel handelt es sich dabei um konkrete Narreteien. Bei uns sieht man Sebastian Brant auf der Bühne, der versucht, die Welt wieder fürs Büro fertig zu machen; vier Leute, die versuchen, ihre Narretei herauszufinden….

Sebastian Brants spätmittelalterliches Werk behandelt Narrheiten, wie Neid, Habsucht oder Wollust. Welche Themen interessieren euch? Wie behandelt ihr diese Narrheiten? 

Marthe: Wir haben uns recht früh mit dem Faktor des Ausgestoßenseins beschäftigt, da dieses in Sebastian Brants Werk eine wichtige Rolle spielt: Die Narren werden den Rhein herunter aus Basel ausgeschifft. Also haben wir uns gefragt: Was ist dieses Ausgestoßensein und was bringt dies mit sich? Im Buch steht dieses im Kontext einer christlichen Moral, die für uns thematisch nicht relevant war. Wir wollten von einem modernen Ausgestoßensein erzählen: Was heißt es nicht „gesellschaftsfähig“ oder nicht leistungsfähig genug zu sein? Diese Fragen haben wir in eine Art holzschnittartige Situationen übersetzt. Bei uns möchten die Personen auf dem Schiff gerne wieder zurück ins Büro, aber sie „funktionieren“ nicht richtig… Durch ihre Narreteien können sie nicht in die Gesellschaft integriert werden. 

Bei Sebastian Brant werden diverse Narreteien behandelt: die Buhlerei, der Sammelnarr, der Eigensinn, der von seinem Äußeren besessene Narr. Die Auswahl der Narreteien hat uns bei der Themenfindung sehr viel Spaß gemacht. Uns ging es dabei aber nicht darum, ein komplettes Abbild der Gesellschaft oder der Narrheit zu liefern. Es geht uns um den Prozess der Kategorisierung, sich in die Vorstellung von sich als närrische Person hineinzuschrauben und diese schlussendlich auch wieder gehen zu lassen. 

Marius: Unsere Grundsetzung kommt der Idee des Theaters als moralische Bildungsanstalt sehr nah: „Ich gehe ins Theater, damit ich am Montag wieder ins Büro kann.“. Diesem Gedanken sind wir nachgegangen und deswegen tritt auch Sebastian Brant bei uns auf (und stellt fest, dass alle Anwesenden krank und hier sind, um sich zu bessern). Unsere vier Närr:innen befinden sich in diesem Moment inmitten der Zuschauer:innen und werden nach und nach vom Schiff angezogen. Hier entsteht eine Überschneidung: Der Ort oder das Gebäude, zu dem ich gehe, ist das Narrenschiff. Das Närrische steckt auch in den dargestellten Situationen und in der zwischen den Närr:innen entstehenden Empathie zueinander. Draußen herrscht Wettbewerb; drinnen verbinden sich Menschen zu einer Gruppe. 

Nach den ersten Bildern zu gehen, wird es eine sehr farbenfrohe und kulissenreiche Theaterproduktion. Was hat euch an dem Bedienen dieser Theatermaschinerie und ihren Möglichkeiten gereizt? 

Marthe: Es ist tatsächlich unser bisher technisch aufwendigstes Stück. Wir haben ein sehr präsentes Bühnenbild. Florian Kiehl, unser Bühnen-und Kostümbildner, hat eine Art Prospekt-Kulissenbühne gebaut mit einem Rundhorizont, einem Schiff und Wellen aus Holz. Andererseits gibt es eine Menschenkanone… Wir bedienen uns dieser Theatermaschinerie in einer Art Zurückbesinnung an das Prospekttheater, in dem man tatsächlich teilweise zeigt, wie Illusionen erzeugt werden können. Man schmeißt Konfetti oder hantiert mit Wasser und wird in der Prospektbühne an das Bedienen dieser Maschinerie erinnert. 

Marius: Gleichzeitig ist es etwas ausgeartet: Es gibt ein brennendes Klavier, Zaubertricks, riesige Luftschlangenkanonen; es wird geflogen; es gibt riesige bewegliche Bühnenteile… Das technische Team hier in Basel ist toll! 

Diese komplette Bühne, die sehr naturalistisch ist, wird von einem LED-Schlauch umrandet. Im zweiten Akt ändert sich das Bühnenbild in eine Art Negativ, das heißt, dass man nur noch die Umrandungen sieht – wie bei einem Holzschnitt. Also, an Effekten mangelt es nicht! 

Diverse Songs tauchen in dem Stück auf, die von euch komponiert wurden. Besonders gefällt mir das Lied, welches Disneys Arielle mit dem faust’schen Monolog verbindet. Wie ist diese Musik entstanden? 

Marius: Ich komme aus der Musik und bin erst spät zum Theater gelangt. Musik im Theater führt zu einer anderen Art der Begegnung. Viele Liedtexte sind ausschließlich von Marthe. Sie setzen sich aus Zitaten des Stücks und neugeschriebenen Zeilen zusammen. Die Lieder haben eine dramaturgische und emotionale Funktion. Sie sitzen an Stellen, an denen das Publikum wirklich emotional getroffen werden soll. 

Dieser Arielle-Song basiert auf einem persönlichen Erlebnis einer Darstellerin, den sie mal bei einem Musical-Casting vorgetragen hat. Zudem war „Arielle“ ihr erster Kinofilm. Da wir immer ohne Material starten, werden alle Ideen und Gespräche zu Ausgangspunkten. Natürlich ist diese Vorgehensweise nicht immer einfach, aber es ist uns wichtig zu wissen, worauf das Team Lust hat. So erschien uns dieser Arielle-Song sehr passend für Sebastian Brant und eine Szene, in der er ins Wasser fällt und den am Ufer stehenden Menschen zuwinkt, diese aber nur lachend sagen: „Ach, da ist schon wieder ein Narr ins Wasser gefallen.“. In unserer Orchester-Playback-Version versuchen wir dem Disneysong so nah wie möglich zu kommen…, auch wenn er bei uns ein paar Einschläge von Mahler bekommt. Unsere Musikerin Jia Lim spielt dazu Trompete.

Ziellos zu sein, sozial am Rande der Gesellschaft zu stehen, verurteilt zu werden, dem Wettbewerbsdruck standzuhalten: All diese Themen stoßen im Publikum wohl auf offene Ohren. Was möchtet ihr mit diesem Theaterabend vermitteln? 

Marthe: Das ist das Tolle am Theater: Es gibt verschiedene und spezifische Formen der Gruppe, die in Gemeinschaft agieren. Beim Schaffen vor und hinter der Bühne: während der Vorstellung sind alle zusammen, vom Inspizient bis zum Publikum. Nach zwei Jahren Pandemie und Vereinzelung erscheint es mir wichtig sich genau anzusehen, wie sich Menschen auf Bühnen miteinander ins Verhältnis setzen und gemeinsam anfangen, in eine Situation zu kommen… und dies in Solidarität und Empathie zueinander. Diese Motivation möchte ich gerne mitgeben. Diese Perspektive möchte ich, als Machende, gerne erleben. 

Marius: Wir versuchen die Enden unserer Stücke immer so zu gestalten, dass sich die gefundene Gruppe wieder auflöst, denn in vielen Produktionen, in denen eine Gruppe vorkommt, ist dies nicht der Fall. Nehmen wir zum Beispiel ein Revolutionsstück: Einzelne Personen finden sich zusammen und ziehen gemeinsam in den Kampf. Aber in dem Moment, in dem die Revolution geschafft ist, endet das Stück. Bei uns fangen die Stücke immer schon mit einer existierenden Gruppe an, deren Mitglieder von Anfang an Empathie füreinander empfinden. Deren Ende oder Auflösung bildet auch das tatsächliche Ende der Probenarbeit ab: irgendwann ist es immer vorbei. 

So ist es hier auch: Widererwarten schaffen es unsere Närr:innen auf das Festland Narragonien. Wenn sich aber alle Närr:innen der Welt an einem Ort versammeln, dann sind diese nicht mehr närrisch. Die Abgrenzung existiert nicht mehr. Dies erzählen wir in der Festlandszene des Stückes, in der sich die Erzählweise komplett ändert. Hier treffen sich Menschen zu einem gemütlichen Abendessen treffen und sprechen über die Arbeit, ihre Hobbies. Ein Schriftsteller namens Sebastian Brant ist mit dabei und erzählt von seinem nächsten Werk „Das Reihenhaus“; eine Alternative des „Narrenschiff“ auf dem Schiff. 

Ich hoffe, dass sich die Zuschauer:innen in diesem Moment angesprochen fühlen und in den Personen wiedergespielt sehen. Gleichzeitig soll aber niemand den Eindruck gewinnen, er müsse nun unbedingt zur Identitätsfindung auf das Narrenschiff! Deswegen taucht das Schiff zum Schluss auch noch einmal auf. In diesem Moment kann jeder selbst für sich entscheiden, wohin er gehen möchte: auf das Festland oder das Schiff. Keine Identität ist festgelegt. Man kann im Reihenhaus genauso spießig oder närrisch sein, wie auf dem Narrenschiff. Darin liegt diese Möglichkeit: Das Narrenschiff steht zur Reise bereit; eine neue Gruppe wartet. Diese Hoffnung wollen wir übermitteln und den Zuschauer:innen mitgeben. 

Marthe Meinhold, 1997 in Berlin geboren, studiert an der Freien Universität Berlin Philosophie und Theaterwissenschaft. Seit 2018 arbeitet sie mit Marius Schötz als Dramaturgin und Autorin u. a. am Staatstheater Saarbrücken, der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und dem Volkstheater Wien. Als Regieduo folgten weitere Arbeiten am Deutschen Nationaltheater Weimar und dem Badischen Staatstheater Karlsruhe. ‹Das Narrenschiff› in der Spielzeit 22/23 ist ihre erste Arbeit am Theater Basel.

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Marius Schötz studierte klassische Komposition und Gesang an der HfMDK Frankfurt und der HMDK Stuttgart sowie Schauspielregie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Seine Inszenierung ‹Messias aus Hessen› wurde mit dem Max-Reinhardt-Preis, dem Hauptpreis beim Bundeswettbewerb deutschsprachiger Schauspielstudierender, 2018, in Graz prämiert. Er schloss sein Diplom mit der Inszenierung ‹Madame Poverty – a set of emotion and sensation› an der Volksbühne Berlin ab. Seither arbeitet er als Komponist, Librettist und Regisseur eng mit Marthe Meinhold zusammen. Die beiden inszenierten bereits in Saarbrücken, Weimar, Wien und Karlsruhe.

Interview: j. le goff
Oktober 2022, Videokonferenz
Fotos: Lucia Hunziker

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