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Das Bündnis für eine gerechte Kunst– und Kulturarbeit, Baden–Württemberg fordert eine radikale Veränderung der Verhältnisse im Kulturbereich.

2021-02-08 Bündnis Kulturarbeit

Das im Juni 2020 gegründete Bündnis für gerechte, diverse und inklusive Verhältnisse im Kunst- und Kulturbetrieb hat gestern seine erste Stellungnahme veröffentlicht. Zahlreiche Kunst-und Kulturschaffende fordern eine radikale Veränderung der Kulturpolitik und ein Ende des „Prinzip des Stärkeren“.

Statement vom 20.1.2021

„Wir, Akteur:innen und Institutionen im Bereich der Künste, die in Baden- Württemberg angesiedelt sind, haben uns am 12. Juni 2020 zu einem offenen, unabhängigen und disziplinübergreifenden Bündnis für gerechte, diverse und inklusive Verhältnisse im Kunst- und Kulturbetrieb zusammengeschlossen: ein Bündnis, das auf regionaler, bundesweiter und transnationaler Ebene aktiv werden möchte, um einen systemischen Wandel herbeizuführen.

Was uns bewegt, sind die Sorge um die Zukunft der Künste sowie die Überzeugung, dass diese nur dann unabhängig bleiben, wenn sich die Strukturen und Bedingungen des Kunst- und Kulturbetriebs sowie für Kunst- und Kulturarbeiter:innen radikal verändern.

Die SARS-CoV-2-Pandemie hat die prekären und ungleichen Verhältnisse innerhalb des Kunst- und Kulturbetriebs erneut aufgezeigt und damit in aller Deutlichkeit seine Zerbrechlichkeit offenbart. Es handelt sich um einen Betrieb, der auf der (Selbst-)Ausbeutung einer Mehrzahl der hier Arbeitenden, das heißt sowohl der freischaffenden Kunst- und Kulturarbeiter:innen als auch der an Institutionen Beschäftigten, basiert. Gleichzeitig entscheiden in diesem Betrieb immer noch soziale und ethnische Herkunft, Hautfarbe, Alter, Geschlecht, funktionale Fähigkeiten oder die Zuständigkeit für Sorgearbeit über Zugänge und Ausschlüsse. Die derzeitigen Verhältnisse erlauben es den meisten Betroffenen hier nicht, Rücklagen oder andere Absiche- rungen aufzubauen und begrenzen die Handlungsspielräume insbesondere von benachteiligten Personen.

Öffentlich geförderte Kunst- und Kulturinstitutionen werden seit den 1980er-Jahren, das heißt seit dem Beginn des Neoliberalismus, auf politischen Druck systematisch nach ökonomischen Kriterien ausgerichtet und dem Modell privatwirtschaftlicher Unternehmen angepasst. Das Resultat war und ist ein massiver Abbau unbefristeter Stellen, die Kommerzialisierung weiter Teile ihrer Aufgabenbereiche sowie die Fokussierung auf Quantität, insbesondere auf Besucher:innenzahlen. Diese produkt- und produktions- orientierte Logik hat sich nicht erst im Stresstest der Corona-Pandemie als völlig unbrauchbar erwiesen.

Zugleich arbeiten viele unabhängige Vereine und Organisationen jenseits einer institutionellen Förderung, das heißt auf der Basis von Ehrenamt und ungesicherten Projektmitteln, ohne langfristige Perspektiven.

Konkurrenz, Aufmerksamkeit und das Prinzip des Stärkeren gelten auch im Kunst- und Kulturbetrieb oft als alleiniger Schlüssel zum „Erfolg”. Für die meisten Künstler:innen schwindet, neben sicheren Einkünften, derweil seit Jahrzehnten bezahlbarer Raum für Ateliers, Lager oder Proben. Dies und andere Ungleichgewichte führen zu einem fragwürdigen Wettbewerb um Ressourcen, der auf meist intransparenten Zugängen beruht. Die Ersten, die hierbei auf der Strecke bleiben, sind unterschiedlich benachteiligte Menschen.

Dem aktuellen, aufgrund der genannten Strukturen sowie der pandemischen Krise drohenden Szenario der Verstärkung von Ausschlüssen und Hierarchisierung („Marktbereinigung“) gilt es dringend entgegenzuwirken. Dabei ist darauf zu achten, dass „Hochkultur” und Soziokultur, große Bühnen und freie Theater, Museen und Produzent:innengalerien, Institutionen und Künstler:innen, internationale und lokale Künstler:innen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Die Kulturlandschaft muss vielfältig und wider- sprüchlich bleiben.

Die zahlreichen Hilfs- und Notprogramme, wie sie derzeit insbesondere in Baden-Württemberg für Arbeiter:innen und Institutionen im Bereich der Künste aufgelegt wurden und werden, waren und sind ein ermutigendes Zeichen, dass die Politik Bedeutung, Belange und Nöte der Künste wahrnimmt und machen Hoffnung auf ein solidarisches Miteinander auch nach Überwindung der aktuellen Krise.

Allerdings hat uns die Schließung sämtlicher Kunst- und Kulturinstitutionen unabhängig von ihren bestehenden Sicherheitsmaßnahmen im sogenannten Lockdown light schmerzlich gezeigt, dass die gesellschaftliche Bedeutung der Künste von Teilen der Politik nach wie vor nicht erkannt wird und die Künste daher nicht nur in Krisenzeiten hinter wirtschaftlichen Interessen zurückstehen. Es ist höchst problematisch und von uns nicht zu verstehen, dass ihnen überdies mit dem zweiten Lockdown jegliche Bildungsarbeit abgesprochen wurde.

Uns treibt die Sorge um, dass auf die vielen Hilfspakete eine Haushaltssanierung folgt, die die Künste mit aller Härte trifft. Dies würde bedeuten, dass wir noch hinter die geltenden unzureichenden Förderpolitiken zurückfielen. Dabei braucht es neue Ansätze und Strukturen, die über die aktuelle Krise hinaus greifen und die Unabhängigkeit der Künste sowie ihre emanzipatori- schen Potentiale langfristig sichern.

Für den zwingend erforderlichen Wandel im Kunst- und Kulturbetrieb müssen die bestehenden Förderpolitiken und Arbeitspraktiken grundlegend hinterfragt und unter Beteiligung von Akteur:innen aus den Künsten, der Politik und Verwaltung neu aufgestellt werden. Es müssen finanzielle Grundlagen für transparente und gerechte, diverse und inklusive (Arbeits-) Verhältnisse geschaffen werden, statt weiterhin auf die (Selbst-)Ausbeutung von Kunst- und Kulturarbeiter:innen und die strukturellen Defizite öffentlicher Institutionen zu setzen. Das heißt, wir brauchen Fördermodelle, die auf Dauer eine radikale Gleichberechtigung von Institutionen und Künstler:innen – zum Beispiel in ihrer Rolle als Antragstellende – gewährleisten und die eine angemessene und verbindliche Bezahlung für alle im Kunst- und Kultur- betrieb Tätigen erlauben: für Künstler:innen ebenso wie für freiberufliche oder angestellte Kurator:innen, Dramaturg:innen, Kulturproduzent:innen, Vermittler:innen, Grafiker:innen, technische Teams, Masken-, Bühnen- und Kostümbildner:innen, Restaurator:innen, Assistent:innen, Praktikant:innen, Autor:innen, Übersetzer:innen, Kassen-, Sicherheits- und Reinigungspersonal, Journalist:innen und viele mehr. Unter den gegebenen Förderbedingungen ist dies unmöglich.

Die Summe, die Bund, Länder und Kommunen in Deutschland jährlich für Kultur aufwenden, beträgt mit 11,4 Milliarden Euro lediglich 1,77 % des Gesamthaushalts und 0,35 % des BIP 2. Sie ist somit äußerst gering. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland gemeinsam mit Frankreich, der Slowakei, Rumänien und Finnland auf Platz 15, was den Anteil der Kulturausgaben am öffentlichen Gesamthaushalt betrifft 3. Im Bundesländervergleich befindet sich Baden-Württemberg bei den Kulturausgaben (Länder und Gemeinden) je Einwohner:innen mit 114,64 Euro knapp unter dem Durchschnitt und weit hinter Sachsen (212,95 Euro) auf Platz 8 4 (alle Zahlen: Stand 2017).

Eine erhebliche Steigerung der öffentlichen Mittel für Kunst und Kultur ist, wie die genannten Zahlen belegen, in Deutschland allgemein und in Baden-Württemberg im Besonderen zwingend erforderlich. Darüber hinaus bedarf es dringend einer transparenten und partizipativen Diskussion zwischen allen Beteiligten über die bestehenden Verteilungsschlüssel, und die Kulturförderung muss endlich zu einer staatlichen Pflichtaufgabe erklärt werden. Nur so lässt sich den prekären Arbeitsverhältnissen im Kultur- bereich, in dem ca. 1,3 Millionen Menschen beschäftigt sind – davon knapp 40 % als Freiberufler:innen (Stand 2017) 5 – verbindlich und nachhaltig entgegenwirken.

Wir möchten – in Erweiterung bestehender Foren – als kompetente, kritisch beratende Ansprechpartner:innen an der Seite von kommunalen, föderalen und nationalen Behörden Lösungsansätze mitgestalten, Forderungen und Anregungen in Haushaltsverhandlungen einbringen und an die Politik herantreten. Nur gemeinsam können wir die systemischen Fehler, die sich über Jahrzehnte hinweg in Kulturpolitik und Kulturförderung verstetigt haben, treffend analysieren, abbauen und alternative Strukturen etablieren.

Neben dem Anliegen, die notwendigen Veränderungen der bestehenden kulturpolitischen Strukturen durch unser Wissen, unsere Erfahrungen, Kritik und Kreativität mitzugestalten, ist es uns ebenso wichtig, unsere eigenen Arbeits-, Denk- und Entscheidungsweisen im Hinblick auf einen gerechten, diversen und inklusiven Kunst- und Kulturbetrieb auf den Prüfstand zu stellen. Wie sind die Institutionen und Akteur:innen in unserem Bündnis aufgestellt, wie transparent und demokratisch ihre Entscheidungsprozesse? Wie diskriminierungskritisch und machtsensibel sind ihre Arbeitspraktiken tatsächlich? Nicht zuletzt müssen wir uns auch fragen, welche Funktionen und Verantwortlichkeiten öffentliche Kunst- und Kulturinstitutionen angesichts von Klimakrise, sozialer Ungleichgewichte, digitaler Überwachung, wachsendem Nationalismus und Rechtsradikalismus in einem Einwanderungsland haben können. Wie gehen wir mit (Selbst)zensur und sexualisierter Gewalt innerhalb des Kunst- und Kulturbetriebes um?

Diese Fragestellungen können nur aus multiperspektivischer Sicht und in kollektiven Prozessen verhandelt werden. Dabei gilt es, ebenso viel zu verlernen wie neu zu lernen. Wie lassen sich in diesem Sinne bereits bestehende Ressourcen und Möglichkeiten kooperativer und solidarischer nutzen?

Unser Bündnis beschäftigt sich dabei nicht nur mit den alten und neuen, pandemiebedingten Problemen der Künste. Es macht sich auch für einen systemischen Wandel stark, der die Künste mit anderen gesellschaftlichen Bereichen solidarisch denkt. Es geht uns dabei um einen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Wandel, der nicht dem Prinzip des Stärkeren folgt, sondern das Verletzliche zum Ausgangspunkt macht.

Dieses neue ist ein offenes und derzeit noch lückenhaftes Bündnis. Wir freuen uns auf viele weitere Beteiligte aus unterschiedlichen Bereichen und Kontexten der Künste.“

Erstunterzeichner:innen

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