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ECLAT Hybrid 2022: szenik im Gespräch mit der ukrainischen Ausnahmekünstlerin Viktoriia Vitrenko

Verzehren und Sich-Verzehren als Metapher: vom sehnsuchtsvollen, fast allegorischen Speisen zum »blutrünstigen Verzehren« über das »Verzehrt-Werden« zum »Sich-Opfern« als grimmige Katharsis. Ähnlich existentiell wie Sven Ingo Kochs gemeinsam mit dem Lyriker Jan Wagner geschriebene »Simple Songs & Lieder des Verzehrens« sind auch vier weitere Zyklen, die die Ausnahmekünstlerin Viktoriia Vitrenko für ihr Projekt LIMBO in Auftrag gegeben hat.

Das Bild der sich selbst am Klavier begleitenden Sängerin als intimster auf sich selbst konzentrierter Ausdruck beschreibt den »Limbo«, den Schwebezustand, in den uns die Pandemie versetzt hat. Mehr Song als Kunstlied, enthüllen die Vokalwerke verschiedene psychologische Zustände des Dazwischen-Seins, wobei die fast autistische Haltung der Solistin im krassen Gegensatz zur close-up Perspektive steht, die das lokale und digital anwesende Publikum durch die fast voyeuristische Kameraführung einnimmt. Das hybride Spiel über Nähe und Distanz, Einsamkeit und globale Verortung spiegelt nicht nur die Situation der Künstlerin in pandemischer Abgeschlossenheit wider, sondern auch die Isolation der Widerstandskämpferin in der Gefängniszelle: LIMBO ist der belarusischen Kollegin und Freundin Maria Kalesnikava gewidmet, die jüngst zu 11 Jahren Lagerhaft verurteilt wurde. Das Thema des irrationalen Schwebezustands bekommt damit eine dramatische, sehr reale Dimension.

szenik hat sich mit Viktoriia Vitrenko vorab über dieses besondere Konzept, die ausgewählten KomponistInnen und ihre Freundschaft zu Maria Kalesnikava unterhalten.

Frau Vitrenko, wie ist das Konzept dieses Konzertes entstanden?

Viktoriia Vitrenko: „Limbo“ ist ein Konzert von einer sich selbst am Klavier begleitenden Sängerin. Ich habe im Sommer 2020, während des Lockdowns, mit der Konzipierung des Projektes begonnen. Die Frage des Alleinseins und das Bedürfnis nach Kommunikation haben mich in der Zeit natürlich sehr beschäftigt. Hinzu kamen die politischen Unruhen in Belarus und die Situation meiner engen Freundin Maria Kalesnikava, die mich nicht losließen. Ich hatte den Eindruck in einer Art Zwischenraum zu leben, in dem die Zukunft ungewiss und ich mir über meine eigenen Gefühle unsicher war. So ist mein Bedürfnis, diese Enge oder Ausgeschlossenheit auf der Bühne und im Rahmen eines Konzertes zu präsentieren, entstanden. 

Da ich mich in der Neuen Musik bewege, habe ich mich gefragt, ob diese überhaupt etwas für so ein Format schreiben kann. Also, ob sie immer so kompliziert und elitär sein muss… Ob wir nicht einen Schritt zurückgehen und uns fragen sollten, was uns Musik heutzutage bedeutet; gerade in der Hinsicht auf die neue und experimentelle Musik. „Können sich diese zwei Welten in einem solchen Zwischenraum treffen und können sie diese Ungewissheit wiedergeben?“ Diese Fragen beschäftigen mich sehr. 

Bei vier der fünf Zyklen handelt es sich um Neukompositionen. Wie haben Sie die Auswahl der KomponistInnen getroffen?

Wir präsentieren fünf Zyklen in 75 Minuten. Das ist eine große Herausforderung für mich als Musikerin, auf die ich mich aber sehr freue. Vier der fünf Kompositionen sind neue Auftragswerke. Bei der Auswahl ging es erstens darum KomponistInnen zu finden, die gut für die Stimme schreiben können. Schließlich ist die Stimme ein besonderes Instrument und damit muss man umgehen können. 

Zweitens habe ich nach KomponistInnen gesucht, die das Lied verstehen. Bei den Aufträgen handelt es sich um Songs; simple Songs der Neuen Musik. Ich glaube, dass das für ein solches Format sehr außergewöhnlich ist.

Drittens war es mir wichtig, eine persönliche Verbindung zu den KomponistInnen zu haben, da es sich um ein intimes Konzept handelt, das mir viel bedeutet. 

So fiel die Auswahl zum Beispiel auf Sven Ingo Koch; ein deutscher Komponist, der viele Lieder für das Radio schreibt und gut mit dem Dichter Jan Wagner befreundet ist. Jans Werke erschienen mir im Hinblick auf das Eingesperrtsein und die Sehnsucht nach einem „normalen“ Leben passend. 

Alla Zagaykevich ist eine ukrainische Komponistin, die ich schon sehr lange kenne. Sie ist eine der führenden KomponistInnen der experimentellen und elektronischen Musik in der Ukraine. Es war mir sehr wichtig, ukrainische Musik und ukrainische Sprache in diesen Konzertabend einzubinden. Alla und ich haben uns für die Gedichte von Iya Kiva entschieden. Beim Ausbruch des Krieges im Jahr 2014 hat sie Donetsk verlassen und ist nach Kiew geflohen. Iyas Gedichte beschäftigen sich sehr mit dem Krieg (sie verlor so ihren Vater), dieser Unruhe, diesem Hebezustand. 

Natürlich kommt jetzt das Limbo auch für die Ukraine und ist sehr aktuell. Diese politische Ungewissheit, ob wir angegriffen werden oder nicht, ist sehr schmerzhaft. 

Mit Ying Wang haben wir eine chinesische Komponistin, die auch eine enge Verbindung zu ihrem Vater und der politischen Situation in China hat. Ihr Zyklus ist tatsächlich der Einzige, bei dem ich mit dem elektronischen Zuspiel einverstanden war. Es wird also ein sehr abwechslungsreicher Abend. Ich singe nicht „bel canto“, also den schönen Gesang, sondern probiere Stile, die mir noch aus meiner Kindheit nahe liegen, wie zum Beispiel der Rock, Punk-Rock und Punk. Das haben wir versucht mit Ying Wang umzusetzen und dabei aus dem gewöhnlichen Konzertgesang auszubrechen. 

Die vierte Komponistin, Agata Zubel, kommt aus Polen. Sie kannte ich nicht persönlich; ich habe aber bereits Stücke von ihr aufgeführt. Agata selbst ist Sängerin und versteht natürlich die Prozesse und kennt die Problematiken Osteuropas, des sogenannten Ostblocks. In Hinsicht auf die belarusische Situation und Marias Ausgangssperre hat sie einen ganz besonderen Zyklus entwickelt. 

Dieser Konzertabend wird sehr persönlich; sei es aufgrund Ihrer persönlichen Erfahrungen während der Pandemie oder den Beziehungen zu den KomponistInnen und zu Maria Kalesnikava. Wenn man plötzlich so viel von sich und vor fremden Menschen „preisgibt“, steigt da die Nervosität um ein paar Grad?

Ich bereite mich Tag und Nacht auf dieses Konzert vor, denn es ist sehr herausfordernd sich selbst am Klavier zu begleiten. Teilweise sind die Stücke nicht so simpel, wie es anfangs gedacht war. Tatsächlich mache ich mir aber über die Spannung Gedanken. Immerhin muss ich diese allein und anderthalb Stunden lang halten. Das ist für mich eine spezielle Herausforderung. Ich kann noch nicht erahnen, inwiefern das Lampenfieber eine Rolle spielen wird. Die Konzentration wird so enorm sein, dass es vermutlich keinen Raum in mir für Aufgeregtheit geben wird. 

Sie widmen diesen Abend Ihrer Freundin Maria Kalesnikava. Welche Botschaft möchten Sie ihr damit vermitteln?

Dieser Gedanke kam mir bereits im Sommer 2020. Wir haben alle zu der Zeit unser eigenes Limbo erlebt, aber für Maria ist dies natürlich ganz anders. Ich kann nur schwer erahnen, wie es ihr tatsächlich geht…, trotz aller Nachrichten, die veröffentlicht werden. Mit diesen Gedanken wollte ich den Konzertabend intensivieren und ein Zeichen setzen. Ich denke an sie und ich möchte mit ihr, und insofern ich kann, dieses Limbo ertragen. Ich hoffe, dass dieser Akt bei ihr ein positives Gefühl auslösen wird. 

Ist Ihr Drang, mittels der Kunst politische oder soziale Themen zu besprechen, durch die Pandemie stärker geworden?

Seit Pandemiebeginn hat sich dies merklich verstärkt. Mir scheint, die Zeit ist dafür reif. Ich spüre diesen Drang über unsere eigene Bedeutung und Themen, die uns beschäftigen, auf der Bühne zu sprechen. Meine Hintergrundgeschichte verstärkt dies noch einmal. Deutschland lebt seit 80 Jahren in Frieden; mein Heimatland befindet sich seit sieben Jahren im Kriegszustand. Diese Gedanken möchte ich zeigen, darauf aufmerksam machen und auf der Bühne mit anderen Menschen diskutieren. 

Da ich Musikerin bin, kann ich Aufträge an KomponistInnen vergeben und Konzepte entwickeln, die mir diese Diskussion ermöglichen. 

Das Konzert wird digital auf der Plattform des Festivals übertragen. Wie gehen Sie mit dieser Kamerapräsenz um?

Es ist ein Teufelskreis, aber neue Zeiten erfordern neue Herangehensweisen.

Die Idee war ursprünglich allein auf der Bühne zu sein, um diese Sperre oder Einsamkeit bei den ZuschauerInnen zu intensivieren. Aufgrund des digitalen Formats bin ich nun von zwei Kameramännern umgeben, die live filmen werden. Für das digitale Publikum wird diese direkte Nähe interessant sein. So kommt es zu einer Kommunikation oder Reaktion bei dem/r unsichtbaren Zuschauer/in, der/die sich hinter der Kamera befindet. Ich stelle es mir als eine Art „Aufschrei nach außen“ vor, bei der man sich fragt, ob man gehört wird. 

Andererseits bin ich gespannt, wie das Publikum im Theaterhaus darauf reagieren wird und ob es das Kamerateam ausblenden kann. Sodass dieser Zustand der Einsamkeit immer noch im Saal direkt übertragen werden kann. 

Welche Gefühle möchten Sie mit diesem Konzert bei den ZuschauerInnen auslösen?

Der letzte Zyklus von Maxim Shalygin ist kein Auftragswerk, sondern entstand bereits im Jahr 2010. Es passt aber sehr gut zu diesem Zwischenzustand. Er vertont die „Lieder des Heiligen Narren“. Es endet mit einem Agnus Dei, welches im Hinblick auf Maria nochmal eine andere Bedeutung hat, denn sie opfert sich für die Demokratie und ihr Land. Wir „opfern“ uns derzeitig in Hinsicht auf das Gesundheitssystem, die Nähe zu unseren Familien und Freunden, die verschlossene Welt und die fehlende Kommunikation. Dies ist ein anderes Zeichen, das ich mit diesem Konzert setzen möchte. Was bedeutet es, ausgesperrt, allein, im Gefängnis zu sein und nicht kommunizieren zu können? 

Einerseits klingt das sehr trüb; andererseits ist es die Realität, in der wir leben. Wir können und sollen das Leben genießen; dies müssen wir aber respektieren und auszuschöpfen wissen. Wir wissen nicht, ob sich die Ukraine morgen im Krieg befinden wird. Ich lese Nachrichten aus Kiew über Menschen, die, trotz der alarmierenden Situation, versuchen, Ruhe zu bewahren. Diese Menschen befinden sich wirklich im Limbo. 

Mit diesem Konzert möchte ich vermitteln, dass wir, trotz des Alleinseins, zusammenkommen können. Wir können uns zusammenschließen, um diese unsicheren Zeiten zu überwinden. 

Sie haben bereits schon einmal am ECLAT Festival teilgenommen. Was macht dieses Festival für Sie so besonders?

Das Festival bietet ein offenes Format und die Einladung zu einem offenen Gedankenaustausch. Es ist kein konventionelles Festival der Neuen Musik, bei dem die Regeln praktisch vorgeschrieben werden. Ich hoffe, dass die ZuhörerInnen auch in diesem Esprit an der diesjährigen Ausgabe teilnehmen werden. Diese Experimentierfreude und das Verständnis, dass Neue Musik nicht immer kompliziert und unspielbar sein muss, stehen bei ECLAT im Vordergrund. Zu zeigen, dass Neue Musik sehr wohl Gefühle auslösen kann und soll. Wir möchten das Publikum ansprechen und alle Welten, dank dieser Plattform, vereinen. Es geht um reale Situationen, das reale Leben und reale Gefühle. Dies versuchen wir mit der Musik widerzuspiegeln. 

Foto: Oliver Röckle

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